Ausgabe 10 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Rand ohne Block

Kritik am Bau (VI): ein Bürohaus am Spittelmarkt

„Ich liebe in großen Städten diese ältern Stadtteile mit ihren engen, krummen, dunklen Gassen ... Ich liebe diesen Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in liniengraden, parademäßig aufmarschierenden Straßen und Plätzen angesetzt hat ..." Als Wilhelm Raabe 1855 seine Chronik der Sperlingsgasse schrieb, war der Berliner Städtebau noch übersichtlich. Der mittelalterliche Stadtkern war alt, eng und düster, sein Widerpart, die barocke Friedrichstadt, neu und steril. Als Romantiker bevorzugte Raabe das Alte, denn „der zusammengedrängtere Verkehr treibt die Menschen in tolleren, ergötzlicheren Szenen zusammen als in den vornehmeren, aber auch öderen Straßen".

Heute sind die Verhältnisse verworrener. Die Gassen Alt-Köllns sind so gut wie verschwunden, im benachbarten Nikolaiviertel spielen ausgerechnet Betonbauten den romantischen Touristen das Mittelalter vor. Als „toll und ergötzlich" oder, wie es heute heißt, als „urban" gilt nun die Friedrichstadt. Und als „öde" empfindet man das Abstandsgrün, das einmal angelegt worden war, um die Anwohner vorm „zusammengedrängten Verkehr" zu schützen.

Einen besonders öden Ruf hat der Spittelmarkt, gleich südlich von Raabes Lieblingsgasse. Weil er so weit und zugig ist, soll ihn das Planwerk Innenstadt auf Vorkriegsgrundriß trimmen. Die autobahnbreite Gertraudenstraße wird an allen Ecken dicht bebaut, mehrfach abgeknickt und wieder auf die Alte Gertraudenbrücke verlegt, die dafür allerdings abgebaut und ­ in einer breiteren Version ­ kopiert werden muß.

Direkt an dieser Brücke steht das erste Planwerk-Haus. „Bürohaus am Auswärtigen Amt" heißt es, obwohl es von diesem zwei Straßen entfernt ist und ihm außerdem den Rücken zuwendet. Denn seine Schauseite hat das Haus natürlich weder zur Kleinen Kurstraße, die es zu einer dunklen Gasse gemacht hat, noch an den Stirnseiten zum Kupfergraben und zur Großen Kurstraße. Die Schauseite zeigt zum Spittelmarkt: eine doppelgeschossige Arkade für Läden, darüber fünf Bürogeschosse und obendrauf noch zwei für Wohnungen, leicht zurückgesetzt und mit quadratischen Fenstern ausgestattet, die statischer, ruhiger und also häuslicher wirken als das weite Raster der Bürofenster. Noch ist das Haus ein Rohbau, der dezente, cremefarbene Naturstein, mit dem es verkleidet werden soll, liegt noch in Stapeln davor. Aber man sieht schon: Es wird eines jener gediegenen Geschäfts- oder „Kontor"-Häuser, wie sie an allen Geschäftsstraßen in Mitte zu finden sind.

Da dies keine Geschäfts-, sondern eher eine Ausfallstraße ist, steht das Haus etwas bezugslos herum. Wie eine Wand wurde es der ehemaligen Akademie der Wissenschaften vor die Nase gestellt; es antwortet weder auf den Rationalismus der umliegenden Siebziger- noch auf die postmoderne Achtziger- und Neunziger-Jahre-Bebauung am Abschluß der Leipziger Straße. Nur das historizistische Kontorhaus auf der anderen Seite des Kupfergrabens mag als formaler Bezugspunkt gelten, sowie natürlich der fahle schwere Hotelblock auf der Fischerinsel, ein Planwerk-Bau, der auf den Trümmern des Ahornblattes errichtet wurde.

Aber während jener an Deutlichkeit wahrlich nichts zu wünschen übrigläßt ­ er ist ganz und gar Block ­, ist das neue Haus typologisch unklar. Es wirkt rechts und links wie abgeschnitten, es ist gleichzeitig zu hoch, zu lang und zu dünn. Wie ist das möglich?

Die Architekten hatten es nicht leicht. Ursprünglich sollte das schmale, trapezförmige Straßengeviert, auf dem das Haus steht, ein zwölfgeschossiges „Scheibenhaus" erhalten. Aber später änderte der Senat seine Meinung und forderte am ganzen Spittelmarkt „kräftige Baukörper" mit einheitlichen Traufhöhen. Kein Scheibenhochhaus also ­ und auch die andere Möglichkeit, ein liegender Riegel mit rein horizontaler Gliederung, hätte dem Senat mißfallen. Er wollte vertikale Fassaden, die „einen Kontrast zur Dynamik des Verkehrs bilden". Klare Ansage: In den Himmel schießende Türme und die Straße entlangflitzende Riegel hat die Gegend genug. Die Neubauten sollen ganz erdnah den Straßenraum definieren, nicht mehr und nicht weniger.

Also Blockrandbebauung, werden sich die Architekten gedacht haben. Sowas kommt in Berlin immer gut an; mit liegenden Fensterformaten sieht es nicht so altbacken aus und mit cremefarbener Verkleidung nicht so kühl, und irgendwie wird's schon auf das Grundstück passen.

Aber dem Blockrand fehlen die Tiefe und Masse, kurz gesagt: Ihm fehlt der Block. Er ist nur Rand und hat nur eine richtige Außenseite. Die Architekten bemühten sich zwar, auch die anderen Seiten auszuformulieren, schoben eine vollverglaste, aufregend großstädtische Rückfront in die Gasse und zerschlitzten die Stirnseiten mit senkrechten Fensterreihen, um ihnen Ausdruckskraft und Plastizität zu verleihen. Aber umsonst ­ als Ganzes wirkt das Haus wie zweidimensional. Wie eine übergroße Werbetafel steht es am Straßenrand und sagt: Liebe Vorbeifahrende! Hier sehen Sie ein topaktuelles Bürogebäude, ein Kontorhaus der Vorkriegszeit und einen mittelalterlichen Stadtgrundriß. Hier kommt alles zusammen: neu und alt, vornehm, eng und öde.

Raabe würde staunen, was heute alles möglich ist.

Johannes Touché

 
 
 
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