Ausgabe 10 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Immer weniger Töne

Der Komponist Ernstalbrecht Stiebler
über seine Musik und seine jahrzehntelange Erfahrung mit dem Betrieb

Foto: Jenny Wolf

Ernstalbrecht Stiebler, geboren 1934 in Berlin, entwickelte als Komponist eine minimalistische Ästhetik und arbeitet mit extrem reduziertem Material. In Frankfurt leitete er beim Hessischen Rundfunk (HR) bis 1995 die Abteilung für Neue Musik und Kammermusik und rief die Konzertreihe „Forum Neue Musik" ins Leben. Heute verbringt er wieder viel Zeit in seiner Geburtsstadt. In der Maria de Alvear World Edition ist vor kurzem eine CD mit Werken aus allen Schaffensperioden erschienen (s. scheinschlag 4/2004).

Sie haben als Komponist begonnen und dann sozusagen die Seiten gewechselt: Lange Jahre waren Sie Redakteur beim HR in Frankfurt, um dann nach Beendigung Ihrer Tätigkeit dort wieder in erster Linie Komponist zu sein. Wie haben Sie den Musikbetrieb aus diesen Perspektiven wahrgenommen?

Ich habe, wie so viele junge Komponisten, gemerkt, daß man vom Komponieren nicht leben kann. Dazu kommt, daß ich einer Generation angehöre, die immer Stockhausen vor Augen hatte – Stockhausen ist Jahrgang '28, ich '34. Immer schon hatte der Stockhausen wieder etwas Neues erfunden, und wir kamen kaum hinterher. Da habe ich sehr schnell gemerkt, daß ich als Komponist kaum eine Chance habe, mich auf eigene Beine zu stellen. Ich konnte am Anfang auf gar kein Verständnis hoffen. Mein Streichtrio von 1963 wurde zwar von meinem Freund Kurt Schwertsik in Wien aufgeführt, muß sogar einen Erfolg gehabt haben. Ich konnte nicht hin, weil meine Frau gerade im Krankenhaus war und unseren Sohn zur Welt brachte. Ich habe dann aber immer wieder gesehen, daß es für dieses Stück gar kein Verständnis gab.

1969 ergab sich dann die Möglichkeit, im HR eine Redaktionsstelle zu bekommen. Es stellte sich heraus, daß das sehr viel Zeit kostet, und ich mußte mir überlegen, ob ich das überhaupt weitermachen soll. Aber mir war eben auch klar, daß ich es mit meiner minimalistischen Musik sehr schwer haben würde. Durch die Redaktionsarbeit lernte ich so viel Neue Musik, im üblichen elaborierten Stil, kennen, daß daraus auch eine innere Abwehr entstanden sein mag. Es wurden immer weniger Töne, immer sparsamer, und ich wußte, daß es damit auch immer schwieriger sein würde, überhaupt in der Musikwelt zu bestehen, und so bin ich dann – allerdings mit großen Hemmungen – doch im Redaktionsbetrieb geblieben. Das hatte natürlich auch schöne Seiten. Ich konnte Musiker einladen, die mich interessiert haben, mit ihnen Produktionen und Konzerte machen. Der Nachteil war, daß mir zum eigenen Komponieren nicht genügend Zeit und Ruhe blieb. Ich habe dann auf eine Gelegenheit gewartet, frühzeitig aufzuhören.

Der Redakteur Stiebler konnte sich ja nun schlecht für den Komponisten Stiebler einsetzen, mußte sich außerdem vermutlich mit den Begehrlichkeiten von Kollegen herumschlagen.

Ich habe es fast ganz vermieden, mich selbst als Komponist aufzuführen, und das ist auch für meine Position wichtig gewesen. Was die Kollegen betrifft, so hatte ich immer die meiste Angst davor, gefragt zu werden, was ich von ihren Werken halte. Denn als Redakteur macht man natürlich auch Dinge, die man persönlich nicht so gut findet, die aber in der Musikszene eine gewisse Relevanz haben. Da habe ich festgestellt, daß die meisten das gar nicht wissen wollten: Die haben gar nicht gefragt. Es gab natürlich einzelne Leute, die schon sehr aufdringlich waren, aber ich muß sagen, und ich erlebe das ja jetzt auch von der anderen Seite: Es ist in den Institutionen nicht so schwierig, sich dagegen zu wehren. Man kann dann eben irgendetwas nicht machen, verschiebt es usw. Eigentlich ist es für die Institutionen sogar viel zu leicht, Dinge abzuwehren.

Als Komponist habe ich auch vieles anders beurteilt. Früher wurde beispielsweise Hindemith immer so hoch geschätzt. Warum? Weil der Hindemith Fugen geschrieben hat, was vorgeblich sehr schwierig ist. Wer nicht komponiert, kann das nicht beurteilen und findet es ganz toll, wenn jemand eine Fuge schreibt, überbewertet das. Das ist auch heute nicht anders. Wenn Komponisten bestimmte Techniken verwenden und das Notenbild ganz schwarz ist, wird das für das Allertollste gehalten. Wenn man selbst komponiert, dann merkt man aber, daß ein kompliziertes Notenbild nicht das Entscheidende ist. Schließlich habe ich dann Komponistenfreunde wie Clarence Barlow oder Walter Zimmermann gefunden, habe mich für Morton Feldman und Giacinto Scelsi eingesetzt. So bekam das dann auch eine gewisse Richtung. Die größeren Schwierigkeiten hat man in den Häusern selbst, mit der Bürokratie, die sich mit Neuer Musik, wo immer unvorhersehbare Dinge geschehen können, nur schwer verträgt. Dieser Kampf im Hause ist das, was einen eigentlich quält, die Tatsache, daß man immer zwischen den Künstlern und dem Haus steht und am Ende der Schuldige ist.

Die Rundfunkanstalten haben ja für die Neue Musik eine enorme Bedeutung. Nun ist das alles in Erosion begriffen, Rundfunkorchester werden zur Disposition gestellt. Wie sehen Sie die Situation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?

Diese Entwicklung des Rundfunks ist natürlich sehr, sehr traurig. Das Problem sind vor allem die Leute, die jetzt in den leitenden Stellungen sind. Wir hatten früher Chefs, die wirklich verstanden haben, daß man Neue Musik machen muß. Meine Arbeit ist von meinen Chefs nie behindert worden, im Gegenteil. Das ist heute ganz anders, das sind ganz andere Charaktere. Das sind Yuppies, die schnell und effektiv arbeiten, während die Substanz kaum noch eine Rolle spielt.

Wie waren Ihre Erfahrungen mit dem Frankfurter Orchester (RSO Frankfurt)? Mußte man die Musiker zur Neuen Musik prügeln oder bestand da auch Interesse?

Das war zuerst sehr frustrierend. Der damalige Chefdirigent Eliahu Inbal war überhaupt nicht an Neuer Musik interessiert und das Orchester folglich auch nicht. Hinzu kamen organisatorische Probleme. Die Planung mußte sehr kurzfristig gemacht werden, deshalb konnte ich nicht die besten Dirigenten engagieren. Es gibt ja auch nicht so viele Dirigenten, die Neue Musik wirklich gut kennen, und die können das dann natürlich auch nicht vermitteln. Als dann ein neuer Chef kam, wurde das geändert, und ich konnte – zwei Jahre im voraus – wirklich sehr gute Dirigenten wie Zoltán Peskó oder Péter Eötvös verpflichten. Von da an wurde es schlagartig besser. Wir haben dann z.B. die Punkte von Stockhausen gemacht, und Stockhausen war so gut vorbereitet, daß das Orchester von sich aus den Wunsch geäußert hat, wieder mit ihm zu arbeiten. Eine solide, gute Arbeit führt dazu, daß die Musiker auch Neue Musik spielen. Schließlich zählte das Orchester zu den guten Orchestern für Neue Musik.

Vor ein paar Jahren haben Sie selbst ein Stück für das Frankfurter Orchester geschrieben (Unisono Diviso, 1999). Wie waren die Erfahrungen damit?

Da hat dann das Orchester von sich aus mehr Proben verlangt. Es standen noch andere komplizierte Stücke auf dem Programm, und am Ende fehlten zwei Proben. Das Stück gelang dann zur Hälfte recht gut, die zweite Hälfte war etwas ungenau. Aber diese Erfahrung machen sehr viele Komponisten bei einer Uraufführung. Das Orchester und der Dirigent machten, was sie konnten.

Die Neue-Musik-Szene scheint mir, gegenüber etwa der bildenden Kunst, den Vorteil zu haben, daß es nicht um die ganz großen Gelder geht, von denen sich die Leute korrumpieren lassen. Andererseits wirkt der Betrieb etwas inzestuös: Alle scheinen unter einer Decke zu stecken. Wie bewegen Sie sich in dieser Szene?

Wir haben einen Betrieb, in dem sich in den Jahren sehr viele Abhängigkeiten gebildet haben. Die meisten Aufträge werden an wenige Leute vergeben, die zu viele Aufträge bekommen und das gar nicht mehr richtig schaffen. Das, was einmal die Avantgarde ausgezeichnet hat, das Neuartige, Schockierende ist ohnehin verschwunden. Jeder weiß, wie Neue Musik klingt, und sie klingt auch immer so ähnlich. Für mich ist das sehr merkwürdig. Meine alten Freunde sind Komponisten, aber die Kollegen, die Redakteure, haben immer Angst, man würde ihnen Seilschaften vorwerfen, wenn sie etwas von mir machen. Nun habe ich aber auch eine sehr spezielle Ästhetik, die nicht unbedingt auf allgemeines Wohlwollen stößt.

In Donaueschingen wurde neulich ein Stück uraufgeführt, das mir überhaupt nicht gefallen hat, und da drehte sich eine Bekannte zu mir um und fragte: „Warum buhen Sie denn nicht?" Und ich habe gesagt: „Hören Sie mal. Ich bin Komponist, und ich will jetzt nicht einen jungen Kollegen ausbuhen." Ich gehöre einfach zum Betrieb. Außerdem weiß ich genau, daß man mir sofort vorwerfen würde, ich sei neidisch, daß ich hier nicht aufgeführt werde. In Donaueschingen besteht das Publikum zu einem großen Teil aus Musikern, die gerne engagiert werden möchten. Die werden sich nicht unangenehm bemerkbar machen.

Was ist Ihre jüngste Arbeit?

Das ist ein kleines Stück, eine Hommage à Schönberg. Es gibt ein Festival in Bratislava, wo immer Stücke über andere Komponisten in Auftrag gegeben werden. In diesem Jahr waren das Ives und Schönberg, die beide runde Geburtstage haben. Ich habe mich auf Opus 25 von Schönberg bezogen und die Schönbergschen Noten alle gelassen, nur viele weggestrichen. Eine Oktav-Versetzung habe ich machen müssen, sonst habe ich alles von Schönberg gelassen.

Sie haben viel Kammermusik geschrieben, für kleine Besetzungen komponiert. Reizen Sie die großen Apparate und Formen gar nicht?

Im Gegenteil, ich würde viel lieber für Ensembles oder für Orchester schreiben, aber dafür braucht man einen Auftrag. Es ist ein großes Problem, ein Stück einfach so zu schreiben. Wenn ich ein Auftragsstück schreibe, dann muß es auch gespielt werden, weil das Geld dafür ausgegeben wurde. Wenn man aber eine Partitur einreicht, dann kommen immer ein paar Schlaumeier und sagen: „Ach, so neu ist das ja auch nicht." Das würden sie von der Partitur, die sie in Auftrag gegeben haben, vielleicht auch sagen, aber die müssen sie ja spielen. Oft heißt es auch: „Die Besetzung paßt so nicht. Da müßten wir Aushilfen beschäftigen. Vielleicht in der nächsten Saison ..." Und damit ist das Problem beerdigt. Man braucht leider einen Auftrag, damit ein Stück auch gemacht wird. Da habe ich große Probleme. Und Zweitaufführungen werden nur ganz selten gemacht. Das Orchesterstück etwa würde ich gerne ein zweites Mal aufführen. Ich schätze große Besetzungen, weil ich dann mein reduziertes Klangmaterial viel besser entfalten kann. Wenn ich an zwei oder drei Instrumenten hänge, muß ich viel mehr mit Figurationen arbeiten, was ich gar nicht so gerne mache. Ich will jetzt aber trotzdem ein Ensemblestück schreiben.

Interview: Florian Neuner

 
 
 
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