Ausgabe 10 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Zwischen Nachbarschaftshilfe und Antikapitalismus

Tauschringe boomen, der Gratisring dümpelt

Wenn einerseits den Menschen immer weniger Geld zur Verfügung steht, um ihre alltäglichen Bedürfnisse zu befriedigen, und andererseits ihre Fähigkeiten brachliegen, weil sie keinen Job finden, haben Tauschringe Konjunktur. In diesen können die Leute Dienst- und Sachleistungen erwerben, ohne ihr Bankkonto zu plündern, und andererseits ausprobieren, ob ihre Fähigkeiten nicht doch noch bei anderen gefragt sind. Seit Mai diesen Jahres hat sich am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg ein neuer Tauschring etabliert, der mittlerweile mit 87 Mitgliedern zum zweitgrößten Berlins aufgestiegen ist.

Wer an der nachbarschaftlichen Initiative teilnehmen möchte, tritt gegen eine Aufnahmegebühr von fünf Euro und einen Jahresbeitrag von zehn Euro dem Tauschring bei und bietet in der regelmäßig für alle Mitglieder erscheinenden Marktzeitung seine Dienste an bzw. nimmt die anderer in Anspruch. Verrechnet werden die Arbeiten auf einem Konto in sogenannten Helmholtztalern. In der Regel wird eine Stunde Arbeit mit zehn Helmholtztalern vergütet. Die gewerblichen Mitglieder müssen größere Beträge in Rechnung stellen, um kein Verlustgeschäft einzugehen, müssen sie doch Steuern, Materialanschaffungen und ähnliches in Euro bezahlen.

Angeboten wird so ziemlich alles von Kinderbetreuung über Seidenmalerei oder Bewerbungstraining bis hin zum Verleih von BVG-Karten oder auch das Entziffern von Sütterlin. Besonders gefragt sind Computerhilfen, handwerkliche Tätigkeiten und Näharbeiten. Einmal im Monat findet ein sogenanntes „Tauschrausch-Treffen" statt, an dem in größerer Runde Gebrauchsgegenstände gegen Helmholtztaler den Besitzer wechseln. Wessen Konto zu sehr ins Minus rutscht, weil ihm keine erwünschten Arbeiten einfallen, kann immer noch organisatorische Aufgaben gegen Helmholtztaler übernehmen oder auch einfach für die Verköstigung beim Tauschrausch sorgen.

Die Initiatoren des Tauschringes erheben keine großen Ansprüche: Nicht die Überwindung des Kapitalismus oder die Weltrevolution sind ihr Ziel, sondern der Anstoß zu einer etwas gelungeneren nachbarschaftlichen Zusammenarbeit. Als Konkurrenz zu einem funktionierenden Freundeskreis, in dem ohne Verrechnung gegenseitige Hilfe angeboten wird, sehen sie ihr Projekt nicht. Auf Freunde wird man auch weiterhin zurückgreifen können, nur gibt es im Kiez auch viele Menschen, denen ein solches soziales Netz nicht zur Verfügung steht, die einfach Anschluß an die Nachbarschaft suchen. Auch kann man im Tauschring ohne schlechtes Gewissen seinen Computer auf Vordermann bringen lassen, ohne immer denselben Technikfreak im Bekanntenkreis um Hilfe bitten zu müssen. Es ist gerade der Umstand, daß sich im Tauschring „das Geben und Nehmen in der Waage halten", den Mitorganisator Tino Kotte so angenehm findet. Und die wenigen „schwarzen Schafe" im Tauschring, die zwar Leistungen entgegennehmen, sich aber nicht an die Regeln halten, wird es immer geben, ohne daß damit das Projekt gefährdet würde.

Den Initiatoren des Umsonstladens in der Brunnenstraße in Mitte dagegen gehen solche Projekte offenbar nicht weit genug, führen sie doch abstrakte Verrechnungseinheiten und kalkulierendes Nutzungsdenken in soziale Beziehungen ein, in denen auch ohne eine solche bürokratische Organisation gegenseitige Hilfe eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Zwar gestehen auch sie ein, daß dort, wo solche nachbarschaftlichen Beziehungen bereits zusammengebrochen sind, Tauschringe zumindest eine Lücke füllen könnten, doch ihr eigenes Ziel war ein anderes: ein Gratisring, in dem ohne Geld- oder Tauschlogik Dienstleistungen angeboten werden. Dieser Traum von einem „selbstbestimmten Leben jenseits der Marktlogik" erwies sich aber bald als nicht so einfach zu verwirklichen: Zwar gab es durchaus Interesse an dem Gratisring, doch nur selten wurden die angebotenen Fähigkeiten in Anspruch genommen. Italienischübersetzungen zum Beispiel sind eine feine Sache, werden im Alltag aber kaum benötigt.

Dennoch geben die Leute vom Umsonstladen nicht auf. Angedacht ist, das Netzwerk gegenseitiger Hilfe zunächst in bereits bestehenden Gruppen – z.B. im Kreis der Umsonstladen-Aktivisten – wiederaufleben zu lassen. Vielleicht lag das anfängliche Scheitern ja einfach daran, daß Menschen Hemmungen haben, von Wildfremden unentgeltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Indizien für diese These gibt es genug: So verläßt kaum ein „Kunde" den Umsonstladen, ohne vorher höflich zu fragen, ob er die gewünschten Gegenstände wirklich umsonst mitnehmen darf. Die kapitalistische Verwertungslogik manifestiert sich eben nicht nur im Geldsystem, in Arbeitsverträgen und Produktionsprozessen, sondern auch in der Einstellung der Menschen. Und die sind vielleicht ebenso schwer zu überwinden wie das ökonomische System.

Susann Sax

> Der Tauschring findet sich im Platzhaus am Helmholtzplatz, Prenzlauer Berg. Sprechstunde immer montags 19 bis 21 Uhr, tauschring.kiez-lebendig.de

> Der Umsonstladen residiert in der Brunnenstraße 183, Mitte. Öffnungszeiten: Mo und Do 16 bis 20 Uhr, Di 11 bis 14 Uhr und Fr 14 bis 18 Uhr, www.umsonstladen.info

 
 
 
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