Ausgabe 10 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

ditte & menschenkind: Alle Jahre wieder

Kurz gesagt, wenn Brille, dann Fielmann. Und wenn nicht Fielmann, dann Lesehilfe. Von Rossmann. Ein sensationell günstiges Auslaufmodell für weniger als zwei Euro hat Menschenkind ergattert und trägt es wie ein Altintellektueller auf der Nasenspitze vor sich her, blickt interessiert, aber auch ein wenig erhaben und streng, über den oberen Lesehilfenrand ins Offene bzw. öffentliche Straßenland. Das ist über und über mit Tannengrün, Lichterketten und ähnlichem geschmückt, so daß der von Flatterband umwundene klassische Poller vor Menschenkinds Nase wie ein Bestandteil der vorweihnachtlichen Ausstattung erscheint. Zu diesem Irrtum trägt erheblich die Rossmann-Hilfsbrille bei. So fällt der Mann auf seine falsche Weltsicht herein, glaubt, Firlefanz vor sich zu haben, Pappmachee aus Ludwigslust vielleicht, tritt mit seinen Übergangshalbschuhen dagegen und fällt doch auf sich selbst herein.

Eine qualitativ hochwertige Sehhilfe hätte sicherlich zu höherer Erkenntnis-Sicherheit beigetragen, das hochnäsige Tragen simpelster Lesehilfen, wahrscheinlich in Drittweltbilliglohnländern gefertigt, begünstigt offenbar Fehleinschätzungen. Kurzum, infolge der Fehleinschätzung der Konsistenz des Pollers jault Menschenkind auf, greift an seinen schmerzenden Trittfuß, verliert dabei das Gleichgewicht und stürzt auf das Trottoir, ohne dabei an die Lesehilfe zu denken, welche nun zerschmettert am Boden liegt. Zudem kommt eine Rotte von Rottweilern vorbei, die die Reste der Lesehilfe mit ihren pfotigen Füßen in alle Windrichtungen verstreut. Als sich der Gefallene mühsam erhebt, bemerkt er mit leichtem Erschrecken, daß ihm etwas am Kopfe fehlt. Stellt dann aber nach Abtasten des Gesichtfeldes und der Stirnpartie fest, es ist da doch etwas am Kopf.

Bißchen Blut. Und eine gewaltige (!) Beule. „O du fröhliche!" säuselt der Bordfunk des angrenzenden Einkaufscenters. Ditte, die Menschenkinds Treiben bis hierher mit wachsender Freude gefolgt ist, erschrickt bis ins Mark und springt Menschenkind bei. Da haben sich aber bereits zwei Samariter von der Samariterstraße über Menschenkind hergemacht. Sie legen ihn auf eine Trage und wollen ihn schon, wie ein nacktes Hähnchen in die Bratröhre, in ihren Rettungswagen schieben. Ditte fällt ihnen in die Arme. „Laßt Menschenkind los, er sieht einfach nicht durch. Ich kann ihn pflegen." Immer diese lästigen Hilfswilligen, die von der Sache nichts verstehen! Der Samariter tritt Ditte in den Weg, wendet sich seinem Mitsamariter zu und zischt ihn an. „Geh doch schon mal vor. Wir fahren den dann einfach ab."

Aus dem Ring-Einkaufscenter strömen die Schaulustigen mit schmalem Geldbeutel. Mal eine Pause machen beim Preise-Vergleichen und der dazugehörigen Kaufhemmung. Mal etwas umsonst, Reality! „Was ist passiert?" fragt die Ringelmütze den Weihnachtsbaumständer. „Die Olle soll den zusammengeschlagen haben, weil er ihr dit und dat nich gekooft hat!" Die Ringelmütze setzt die Taschen ab. „So sinn se, die Weiber! Schlimmer als die Hyänen." Inzwischen weiß die gesamte Ansammlung Bescheid. „Ruft doch endlich mal einer die Polizei!" tönt es aus dem Rudel. „Manno, laß doch die Scheißbulln ausn Spiel, eh die hier sind, isset sowieso zu spät, oder hab ick recht?" trompetet ein gut gekleideter, aber von einer massiven Punsch/Glühweinwolke umnebelter Herr. Ein jüngerer Bursche mit modischem Kurzhaarschnitt greift sich den Herrn und gibt sich als Zivilfahnder zu erkennen. „Also, was ham Sie da ebent gesprochen, Scheiß, also ich sprech das jetze nicht nach, erfüllt den Tatbestand der Beleidigung, Herabwürdigung, und wenn Sie noch Faxen machen, kommt noch Widerstand hinzu." Auch die Samariter verfolgen neugierig die Eskalation der Ereignisse, die erregte Menge wogt hin und her, Ditte schleicht sich davon und zerrt Menschenkind von der Bahre, leicht lädiert schreiten sie in eine gewisse ungewisse Zukunft. Alle Jahre wieder. Amen.

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

 
 
 
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