Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Die neue Mitte liegt links oben

Mit der Straßenbahn zum Flughafen Tegel

Am schönsten ist die neue Mitte dort, wohin sich keine Ströme hochnäsiger Studenten und Start-up-Mitarbeiter ergießen. Ein solcher Ort ist zweifellos der Plötzensee an der Endstation der Straßenbahnlinien 23 und 24 im Wedding. Im Sommer kann man dort Tretboote leihen oder mit der in Westberlin üblichen 0,33- Liter-Flasche Schultheiss auf Plastikstühlen am Wasser sitzen und dem Sonnenuntergang entgegendümpeln. Dafür ist es jetzt zu kalt. Im Winter, wenn der See zugefroren ist, treffen sich hier nur ein paar Kinder aus der Gegend zum Eishockeyspielen. Ein paar Meter weiter nördlich liegt der Volkspark Rehberge, der für sich genommen größer ist, als sämtliche Grünflächen des alten Bezirks Mitte zusammen ­ der Weddinger hat auch mehr Zeit und braucht deshalb mehr Auslauf. Jetzt wirkt hier alles etwas verlassen. Nur ein paar Spaziergänger trifft man gelegentlich, hauptsächlich die berüchtigten Weddinger Hundebesitzerinnen mit ihren Pudeln.

Folgt man dem Dohnagestell zwischen Rehberge und Friedhof am Plötzensee Richtung Nordwesten, erinnert der Lärm startender und landender Flugzeuge nachdrücklich daran, daß man sich mitten in der Stadt befindet. Das Ende des Weges markiert denn auch ein Stacheldrahtzaun, hinter dem ein paar leere Wohnblocks aus den fünfziger Jahren zu sehen sind. Auf dem abgesperrten Gelände befindet sich seit Januar 1995 die Julius-Leber-Kaserne der Bundeswehr. Entgegen der Behauptung vieler Antimilitaristen war Westberlin nie entmilitarisiert: Im August 1945 zogen die französischen Besatzungstruppen in die damalige Hermann-Göring-Kaserne ein und benannten sie sehr passend nach dem bis Oktober 1979 letzten französischen Staats- chef, der jemals Berlin besuchte. Der neue Name lautete: Quartier Napoléon. Die Kaserne, die zwischen 1936 und 1939 für das Elitekorps der Wehrmacht erbaut wurde, ist eine sehr weitläufige Anlage, die durch ihren üppigen Baumbestand eher an eine Gartenstadt erinnert. Den französischen Truppen gefiel die Nazi-Architektur offenbar gut. In jahrelanger Arbeit haben sie die zum größten Teil zerstörte Kaserne jedenfalls originalgetreu wieder aufgebaut und zum Zentrum ihrer militärischen Präsenz in Berlin gemacht. Hier war der größte Teil der Militärverwaltung untergebracht und hier hatte auch der französische Stadtkommandant seinen Sitz.

Foto: Mathias Königschulte

Verläßt man die stacheldrahtbewehrte Kaserne Richtung Westen, liegen rechts des Weges die Lauben der „Kolonie Quartier Napoléon". Die Existenz von Kleingartenkolonien ist ein untrügliches Zeichen, sich in einer gottverlassenen, für Investoren bislang uninteressanten Gegend zu bewegen. Andernorts ist dieses schöne Berliner Phänomen längst verschwunden. Nach einiger Zeit erreicht man einen etwas großspurig „Stade Napoléon" genannten Bolzplatz, unweit des Hohenzollernkanals, der ehemaligen Grenze zum britischen Sektor.

Die französischen Soldaten schotteten sich, wie die anderen Alliierten auch, stark von der Berliner Bevölkerung ab, versorgten sich in eigenen Läden, die für Deutsche unzugänglich waren, sahen Filme in ihren eigenen Kinos, wie dem „Aiglon", ertüchtigten sich in eigenen Schwimmbädern und Sporteinrichtungen und bewohnten eigene Wohngebiete, die Cités. Eine dieser für die Offiziersfamilien errichteten Siedlungen ist die 1954 erbaute „Cité Joffre" in direkter Nachbarschaft zu den Laubenpiepern. Nach dem Abzug der französischen Truppen fiel die idyllisch zwischen Kaserne und Flughafen Tegel gelegene, zeittypische Siedlung an den Bund. Die mit der Verwaltung beauftragte Oberfinanzdirektion Berlin hielt die Wohnungen für die Bediensteten der Bundesbehörden frei, weshalb das Viertel heute mit 2,6 Prozent eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten der Stadt aufweist. Ehemals trugen alle Straßen französische Straßennamen wie „Allée Camille St. Saëns" oder „Rue André le Nôtre", die auf blauen Schildern zu lesen waren – was nicht dem Berliner Straßengesetz entsprach. Der französischen Besatzungsmacht war das naturgemäß egal. Auch die Bürgersteige waren nach deutschem Recht zu schmal und die Leitungen waren kreuz und quer verlegt. Diese unerträglichen Mißstände wurden selbstverständlich schleunigst behoben: Die Straßenschilder sind jetzt weiß, die Allée Camille St. Saëns nennt sich Charles-Corcelle-Ring, und auf den Gehwegen können zwei Kinderwagen nebeneinander fahren. Nur an der Einfahrt des Festplatzes, auf dem alljährlich das Deutsch-Französische Volksfest gefeiert wird, findet sich noch ein blaues Schild, auf dem „Allée du Stade" geschrieben steht. Von hier aus kann man sogar den Flughafen Tegel sehen, aber der gehört dann doch nicht mehr zur Mitte der Stadt, sondern zu Reinickendorf.

Dirk Rudolph

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