Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Der Charme von Hertie und Birlik Marketler

Die Karl-Marx-Straße in Neukölln ­ vom Feldweg zur Magistrale

Der Strom der Autos ist für kurze Zeit unterbrochen. Einen Moment herrscht Ruhe im Bereich der Straßeneinmündung zur Karl-Marx-Straße. Dann gibt das Grünlicht der Fußgängerampel den Weg frei. Die Menschen setzen ihre Wege fort: Energisch schiebt eine Mutter ihren Kinderwagen über die Straße, eine üppige Dame eilt vorbei, zwei asiatische Frauen schlendern zum Einkaufen. Ein älterer Herr betritt behäbig – die Arme auf dem Rücken verschränkt die Straße, während ein Mann Mitte dreißig, bepackt mit Plastiktüten, den gegenüberliegenden Bürgersteig schon fest im Blick hat. Eine türkische Frau mit Kopftuch macht sich auf den Weg zur Karl-Marx-Straße/Ecke Saltykowstraße. Das dortige Eckhaus beherbergt seit Juni 1998 im Erdgeschoss den türkischen Supermarkt „Birlik Marketler". Zuvor hatten über Jahre hinweg verschiedene Lebensmittelgeschäfte und Konfektionsläden erfolglos versucht, sich an diesem Ort zu etablieren. Doch vorerst hatten es auch die türkischen Händler nicht leicht. Die Konkurrenzsituation zu einem benachbarten Obst- und Gemüse-Kiosk führte unter anderem zu Verbalattacken der Art: „Wir kofen nich bei Kanacken, wir wollen gute deutsche Ware!"

Die Geschichte dieses Eckhauses ist eine von vielen in dem von Dorothea Kolland im Auftrag des Bezirksamts Neukölln herausgegebenen Buches „Die Karl-Marx-Straße ­ Facetten eines Lebens-und Arbeitsraums". Und gleichzeitig ist sie eine von den leider nur sehr wenigen Geschichten, in denen die Bewohner und Nutzer des Hauses im Mittelpunkt stehen und nicht die vergleichsweise zweitrangige Bauhistorie.

Das Buch wird eingeleitet durch eine Reihe von historischen Straßenszenen, die den Betrachter aus dem Jahre 1905 nach und nach in das Jahr 2001 führen. Während die frühen Fotos die Straße eher unbelebt zeigen, fangen die Bilder der näheren Vergangenheit das geschäftige, teilweise chaotisch wirkende Treiben auf den Bürgersteigen und den ins Stocken geratenen Verkehr der Rush Hour hervorragend ein. An keiner anderen Stelle des Buches wird der hektische Charakter der Straße so deutlich wie hier.

Der visuellen Einführung schließt sich ein historischer Überblick an, der den Weg der 1947 so benannten Karl-Marx-Straße vom Feldweg zwischen Berlin und Rixdorf zur Neuköllner Magistrale beschreibt. Ebenso erfährt der Leser, wie sich die Wohnhäuser Rixdorfs und Neuköllns über die Jahrzehnte entwickelten, und über die Besonderheiten der Wohnhöfe entlang der Straße. Im Hauptteil des Buches führt der Text durch die Karl-Marx-Straße. An 43 Stationen erzählt der Autor mitunter recht ausführlich über die Baugeschichte ­ vom einfachen Wohnhaus über die Post und das Rathaus bis hin zu verschiedenen Kaufhäusern. Indem er jeden Nutzungstyp berücksichtigt, trägt er dem abwechslungsreichen Straßenbild Rechnung.

Eine Reihe von Fotos, die unter der Überschrift „Ereignisse" deutlich machen, wie sehr der Straßenraum nicht bloß Verkehrstraße, sondern Ort von Kommunikation ist, bilden einen gelungen Abschluß. Sie zeigen Straßenfeste, Sportereignisse und politische Kundgebungen.

Hier liegt die Stärke des Buches. Die Fotos wie auch die Auswahl des historischen Bildmaterials transportieren am eindrucksvollsten den speziellen Charakter der Karl-Marx-Straße. Die Texte zur Baugeschichte einzelner Gebäude sind nur selten wirklich interessant. Es sei denn, wenn das Gebäude an sich schon das Interesse weckt. Zum Beispiel das Rathaus Neukölln oder die Passage mit der Neuköllner Oper. Auch manche Bildunterschrift scheint fragwürdig. So kann man die Fassade einer 1892 fertig gestellten Mietskaserne wohl kaum als Spätklassizismus bezeichnen.

Dem Anspruch, „Facetten eines Lebens- und Arbeitsraums", zu zeigen, wie es der Buchtitel verspricht, wird das Buch nur ungenügend gerecht. Was die Bilder leisten, fehlt den Texten. Vielleicht hätte man sich auf einen reinen Bildband beschränken sollen.

Thomas Ellinghaus

Cornelia Hüge; Hrsg. Dorothea Kolland: Die Karl-Marx-Straße – Facetten eines Lebens- und Arbeitsraums, Karin Kramer Verlag, Berlin,
ca. 15 Euro

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