Ausgabe 01 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Drehwurm?

„Reichenbach-Nord", hieß es am Telefon, „am Kreisel die erste Ausfahrt Richtung Mehrzweckhalle, nicht ganz bis zur Mehrzweckhalle, links die Kirche, hinter der Kirche der Friedhof."

In jedem Dorf haben sie jetzt Kreisel gebaut, kleine Kreisverkehre an sämtlichen Ortseinfahrten, weil die Leute zu schnell in die Dörfer hineinbrettern, es hat schon Tote gegeben, Hauskatzen, schlecht erzogene Hunde, ab und zu ein spielendes Kind. Fahrbahnverschwenkungen haben nichts genützt, Radarkontrollen haben nichts genützt, jetzt sollen Verkehrsinseln die Raser aufhalten. Zuerst hat man sie einfach mit Blumen bepflanzt, das sah schön aus für den, der den Kreisverkehr rechtzeitig bemerkt hat.

Jetzt steht in den Kreiseln ein weithin sichtbares Verkehrsschild oder eine moderne Skulptur, zusammengeschweißte Stahlträger oder ein Holzgerippe, und wenn man nicht sofort erkennen kann, was es darstellen soll, schreiben die Leute Leserbriefe an die Lokalzeitung, wegen der Steuergelder, und Kunst schreiben sie in Anführungszeichen, so wie sie manchmal Gastarbeiter in Anführungszeichen schreiben.

Der örtliche Künstler erklärt in der Zeitung auf Anfrage, was seine Skulptur denn nun bedeutet, und immer ist es etwas Modernes, Abstraktes, nie sagt er, das ist ein Bauer auf dem Weg zum Heuen, da ist der Kopf, da ist der Leib, und das da ist die Heugabel; der Künstler sagt „Sehgewohnheiten" und „Kritik" und „in Frage stellen", aber die Leute wollen ihre Sehgewohnheiten so lassen, wie sie sind, und wenn sie so eine Skulptur sehen, bei der man nichts erkennen kann, dann wollen sie ihre Sehgewohnheiten erst recht behalten, denn wenn sie was erkennen könnten, wo nichts zu erkennen ist, dann wären sie ja verrückt, und das wollen sie nicht sein, und eine Kunst, die von einem Künstler gemacht wird, der in der Lokalzeitung sagt, man soll doch bitteschön verrückt sein, so eine Kunst wollen sie nicht, jedenfalls nicht da, wo man sie dauernd sieht, also zum Beispiel in der Ortseinfahrt, und es soll keiner kommen und sagen, die Leute würden sich über Kunst keine Gedanken machen.

Wenn sich einer sowas ins Wohnzimmer stellen möchte, bitteschön, soll jeder machen, wie er denkt, solche Leute muß es auch geben, vielleicht. Aber im Kreisverkehr hat so eine „Kunst" doch wirklich nichts verloren, die andern Gemeinden müssen ja denken, man hätte was zu verschenken. Für das Geld hätte man den ganzen Parkplatz vor dem Sportlerheim neu asphaltieren können, und es wär noch was übrig geblieben für Freibier zur Parkplatzeinweihung und ein bißchen Musik, dem Allmendinger seine Buben hätten bestimmt gern gespielt, aber nein, dafür ist kein Geld da.

Der Gemeinderat beschließt, das Kunstwerk zu entfernen, er will dem Künstler trotzdem sein Honorar zahlen, jedenfalls einen Teil, zum Beispiel die Hälfte. Der Künstler droht mit Klage, man einigt sich auf einen Vergleich, der Künstler bekommt 80% der vereinbarten Summe, dafür erlaubt er, daß das Holzgerippe an einen geeigneteren Standort versetzt wird, es wird abgebaut und zum Bauhof gebracht, da darf es ungestört verrotten, und in die Mitte des Kreisels wird ein Verkehrsschild gestellt.

Weil das hier ein neuer Kreisel ist, steht noch kein Verkehrsschild drin, sondern eine riesige Panzersperre aus zusammengeschweißten Stahlträgern, ich nehme also die falsche Ausfahrt, verfahre mich und finde eher zufällig den Friedhof. Zehn nach eins raus aus dem Auto, zur Aussegnungshalle. Vorn betongrau, an den Seiten ein dunkelbraun gebeiztes, steiles Holzdach bis zur Erde; soll gefaltete Hände symbolisieren, das kann man sofort erkennen, oder es hat sich zumindest herumgesprochen.

Bov Bjerg

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