Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
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Beunruhigende Details

Helen Ernst, eine vergessene Zeichnerin in Friedrichshain

Die Kokotten an den Cafétischen tragen hauchdünne Chiffonkleider, doch unter den Säumen ihrer bunten Roben gucken plumpe Hufe und Löwentatzen hervor. Eine nackte Frau liegt ausgestreckt in hügeliger Graslandschaft, ihren Händen entgleiten zwei kleine Pelztiere. Ein Arbeiterpaar lehnt an einer Hausmauer, seine Aufmerksamkeit aber gilt weniger einander als einem umherstreifenden Uniformierten ­ auf dem Straßenschild im Bild liest man „In der Falle", in einer Ecke die Datierung 1933. Beunruhigende Details und Anspielungen lassen sich bei genauem Hinsehen auf nicht wenigen Zeichnungen von Helen Ernst (1904-1948) entdecken, die jetzt im Heimatmuseum Friedrichshain ausgestellt sind.

Fotos zeigen sie mit Bubikopf, kurzem Rock und Stiefeln, den Skizzenblock in der Hand. Wie eine Illustration des zeitgenössischen Schlagworts von der „neuen Frau" liest sich der Lebensweg der jungen Künstlerin in den zwanziger Jahren: Nach dem Kunststudium in Berlin ist Helen Ernst Lehrerin an einer Kunstgewerbeschule, arbeitet als Mode- und Pressezeichnerin, entwirft Kostüme und Kaufhausdekorationen, verkehrt in Bauhaus-Kreisen. Neben Akten, Tierzeichnungen und Kostümfigurinen entstehen viele Zeichnungen in Arbeitervierteln und in Bars und Bordellen. 1931 bricht sie mit ihrem bisherigen Leben und tritt der KPD bei, für die sie sich nun in der Bildungsarbeit und als Illustratorin engagiert. 1933 wird sie mehrfach inhaftiert, viele Arbeiten werden von der SA zerstört. Im Jahr darauf gelingt ihr die Flucht nach Amsterdam, wo sie bald wieder Anschluß an antifaschistische Künstlergruppen findet. Der von Helen Ernst illustrierte Dokumentarroman Frauengefängnis (1935) der Niederländerin Eva Raedt-de Canter beruht auf Berichten der Zeichnerin über ihre Haftmonate und ist eine der ersten Darstellungen des Terrors in Nazideutschland. 1940, nach dem Einmarsch der Deutschen wird Ernst verhaftet und als „Politische" ins KZ Ravensbrück verschleppt. Ihre Darstellungen des Lageralltags gehören zu den eindrücklichsten Blättern der Ausstellung. Bei der Befreiung 1945 schon sehr geschwächt, ist sie einem Prozeß im folgenden Jahr wegen der Anschuldigung, die „Hofmalerin der Lagerkommandeuse" gewesen zu sein, nicht gewachsen. Zwar wird sie voll rehabilitiert, stirbt jedoch bereits 1948. Daß heute überhaupt so viel aus Leben und Werk der vergessenen Zeichnerin ausgestellt werden kann, ist Hans Hübner zu verdanken: Nachdem er vor vierzig Jahren auf ein Porträt der Künstlerin von Hans Grundig gestoßen war, wollte er mehr über sie wissen. „In der DDR kannte man zuerst nur zwölf Zeichnungen, bis heute habe ich schon 1400 Arbeiten nachgewiesen", sagt der ehemalige Eisenbahner und Bibliothekar. Einen Teil davon hat er privat aus Antiquariaten und von Zeitzeugen zusammengetragen, vieles ist jedoch weit verstreut. Daher zeigt die Ausstellung in Friedrichshain zwar kaum Originale, bietet aber eine Annäherung an eine interessante, vielseitige Künstlerin.

Annette Zerpner

„Helen Ernst 1904-1948 – Stationen einer Künstlerin: Berlin – Amsterdam – Ravensbrück", bis zum 24. November im Heimatmuseum Friedrichshain, Alte Feuerwache, Marchlewskistr. 6, Di und Do 11-18, Sa 13-18 Uhr.

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