Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
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Nachricht geben vom desolaten Stand der Gesellschaft

Neue Musik und politisches Engagement

Als Hans Werner Henze 1968 in Hamburg die Uraufführung seines Oratoriums Das Floß der Medusa dirigieren sollte, bestand er auf einer roten Fahne auf dem Podium. Die Folge war ein Skandal, das vom NDR in Auftrag gegebene Werk konnte nicht aufgeführt werden. Ein bißchen marxistisch gerierte sich damals allerdings jeder. In Frankfurt kommentierte die dortige APO ein Konzert neuer Musik mit den Worten, die Tatsache, daß die herkömmliche musikalische Sprache revolutioniert werden könne, wecke den Glauben an die Möglichkeit grundsätzlicher Änderungen. Henzes Kollege Luigi Nono war zu dieser Zeit längst dazu übergegangen, sein Publikum in den Fabriken zu suchen: „Mir wurde klar, daß es keinen Unterschied macht, ob ich eine Partitur schreibe oder einen Streik organisiere. Es gibt für mich keinen Unterschied mehr zwischen Musik und Politik." Mit der Musik, die er in italienischen Fabriken vorführte, dem Tonbandstück La fabbrica illuminata (1964) etwa, begab Nono sich freilich keineswegs auf ein simpleres, vermeintlich verständlicheres Niveau; er war davon überzeugt, es gebe einen direkten Zugang zu seiner avangardistischen Musik – über den Fabriklärm etwa, der in die fabbrica eingegangen war. Der von Kuba begeisterte Klassenkämpfer Luigi Nono war vielleicht der schillerndste Vertreter einer politisch engagierten neuen Musik. Auf den westdeutschen Festivals, bei den Berliner Festwochen und in Donaueschingen wollte man denn auch bald nichts mehr mit ihm zu tun haben. Kritik kam indes nicht nur von den Hütern eines bürgerlich-betulichen Musiklebens, sondern auch von linken Musiktheoretikern wie Heinz-Klaus Metzger, der Nono vorwarf, seine Kompositionen zitierten politisches Engagement nur in ihren Titeln und Texten, seien ihrer musikalischen Substanz nach aber keineswegs politisch-fortschrittlich. Wie so etwas aussehen kann, erläutert Metzger am Beispiel von John Cage, der in seinen Versuchsanordnungen Hierarchien aufhebt und seine Interpreten vom Diktat eines starren, zu exekutierenden Notentextes befreit.

Auch ein Komponist wie Mathias Spahlinger setzt bei der Produktionsweise von Musik an und stellt sich etwa die Frage, ob er es überhaupt verantworten könne, Orchestermusik zu schreiben. Das Orchester sei nicht gerade eine basisdemokratische Vereinigung. Stücke wie das Mitbestimmungsmodell für Orchester und Dirigenten (1973) des Dirigenten(!) Michael Gielen setzen an dieser Stelle an. Das war die Zeit, als auch an den westdeutschen Theatern allenthalben – heute längst wieder aufgegebene – Mitbestimmungsmodelle erprobt wurden, und man muß die Frage stellen, ob ein solches anti-hierarchisches Stück mehr sein kann, als eine Metapher für die Möglichkeit eines emanzipierteren Lebens. Aber wäre das nicht schon eine Menge? Heinz-Klaus Metzger schrieb vor einigen Jahren im Rückblick auf die musikalischen „Revolutionen" des 20. Jahrhunderts: „Was der Kunst fehlt, ist lediglich die Wirklichkeit." Man mag dieses „lediglich" als bitter lesen oder als ein wenig zynisch. Der in Köln lebende spanische Komponist José Luis de Delás meint: „Ich kann doch nicht in eine Partitur eine Bombe einwickeln."

Im Vergleich zu anderen Künsten wie etwa der Literatur, wo schon ein Sozialdemokrat wie Günter Grass als politisches enfant terrible gelten kann, fällt auf, daß die führenden (west)deutschen Komponisten, einflußreich im Nischenbereich der neuen Musik und ausgestattet mit Professuren an den Musikhochschulen, meist bekennende Linke sind, mit einem politischen Bewußtsein und theoretischem Fundament, das über ein 68er-Mitläufertum weit hinausgeht. Helmut Lachenmanns opus summum, die Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997) etwa ist eine Auseinandersetzung mit Gudrun Ensslin. In Mathias Spahlingers in dem ganzen ocean von empfindungen eine welle absondern, sie anhalten (1985), einem hochdifferenzierten Chorstück, kommt es zu einem Einbruch der „Realität": „Alle zwei Sekunden stirbt ein Mensch am Hunger"; die vom Chor zitierten Zahlen stehen für die 500 Menschen, die während einer Aufführung des 20minütigen Stücks sterben.

Die Schülergeneration folgt dem Engagement der Achtundsechziger nicht, Politik ist heute nicht en vogue, und man übt sich lieber in postmodernem Kunstgewerbe – und sei es auf höchstem Niveau. Das kritische Potential, das eine ausdifferenzierte, in kritischer Reflexion des Materials gegen sich selbst gerichtete neue Musik aufzuweisen hat, wir hätten es nach wie vor nötig. Wenn im Konzertsaal auch der Funke zur Revolution nicht gezündet werden mag, man kann dort doch noch einiges lernen. „Denn Musik, die nicht utopisch ist", sagt Mathias Spahlinger, „ist nicht human."

Florian Neuner

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