Ausgabe 10 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Bühne auf für Stimmann

„Frau Lungwitz, Sie werden nicht vorgebaut"

Der Saal in der Scharrenstraße ist gut gefüllt, alle Ränge besetzt, die Abendvorstellung kann beginnen. Das Publikum ist zum Teil etwas betagt, mancher hat seine Gehhilfe neben sich abgestellt. Die Gäste erwartet ein Abend-Amüsement besonderer Art – eine „Bürgerbeteiligung" à la Hans Stimmann.

Vor fünf Jahren wurde das Planwerk Innenstadt vorgestellt. Damals war von einem Diskussionsangebot die Rede – das Planwerk sollte zeigen, wohin die Reise geht. Heute zeigt der Senatsbaudirektor unmißverständlich, wohin die Reise gegangen ist. Spurensuche, Identitätsfindung und Wiedergewinnung der historischen Stadt – Stimmann klappt seinen Modellbaukasten auf und präsentiert dem staunenden Publikum den neuen historischen Spittelmarkt. Der städtebauliche Entwurf von Georg Graetz, Marc Jordi, Tobias Nöfer wird an die Wand projiziert. Erst auf den zweiten Blick ist die Gegend wiederzuerkennen. Wo einmal die Leipziger Straße war, mäandert eine vergleichsweise schmale Fahrbahn um sechs- bis achtgeschossige Bauten herum. Sogar Giebelchen sind in der Darstellung zu sehen. Erst in den hinteren Lagen sind die charakteristischen Türme der Fischerinsel zu erkennen. Die Leipziger Straße wird, sollte die Planung nicht doch noch verhindert werden, in den nächsten Jahren eine der größten Baustellen der Stadt werden. Ein Bebauungsplan liegt schon vor. Grund des Aufwands ist die Wiederherstellung des historischen Spittelmarkts, der ungefähr dort lag, wo heute sechsspurig der Verkehr vorbeibraust. Ein kleiner dreieckiger Platz. Und weil es früher auch so war, soll in seiner Mitte der „Spindlerbrunnen" plätschern, der momentan noch auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht. Sein alter Standort, ein baumbestandener Wochenmarkt mit ein paar Buden wird überbaut, ebenso ein guter Teil des jetzigen Parks „Friedrichswerder". Das neue, der Straße abgetrotzte, kleine Dreieck soll im Ausgleich „Urbanität" und „höchste Aufenthaltsqualität" bieten. Immerhin zeigt die Folie hier sechs neu angepflanzte Bäumchen.

Spittelmarkt und Gertraudenstraße nach dem Umbau

Da ein Platz eine Begrenzung braucht, werden um ihn herum vier neue „Stadthäuser" gebaut. Darunter ein querstehender Riegel vor der Fischerinsel und ein Siebengeschosser vor dem Hochhaus Leipziger Straße 54. Neben weiteren Neubauprojekten vor den Hochhäusern, soll nicht weniger als die gesamte Straßenführung aufgebrochen werden. Ehrgeiziges Ziel ist, den ganzen Verkehr über die alte (!) Gertraudenbrücke zu lenken. Da diese viel zu schmal ist, wird sie mittig zerteilt, ein neuer Mittelteil für die Fahrbahn hergestellt und die alten Brückenränder seitlich angeklebt. Da staunen die Bewohner der schnöden Hochhäuser nicht schlecht.

Ein paar historische Stadtpläne erscheinen nun an der Wand. Und noch mal die heutige Leipziger Straße bei Regenwetter ­ so aufgenommen, daß die Breite der Fahrbahn bestmöglich zur Geltung kommt. Man fühlt, daß es den Menschen, die hier leben, schlecht gehen muß. Nach der Lichtshow ist Diskussion.

„Da vorne in der ersten Reihe ist jemand, der behindert ist", sagt Moderator Stimmann. „Sie darf jetzt." Das Mikrofon funktioniert nach mehreren Versuchen. Die Dame heißt Lungwitz und wohnt in einem der Hochäuser, fünfte Etage. Ihre Nachbarn haben erzählt, bis zum fünften könne noch vorgebaut werden. „Wird bei mir nun vorgebaut?" fragt sie. Außerdem erkundigt sie sich nach der Zukunft des Parks „Friedrichswerder" und nach den Platanen und Sitzgelegenheiten vor ihrem Haus.
„Wir finden die vorhandenen Grün-
flächen nicht zufriedenstellend", erklärt Stimmann. Die Stadtplaner seien sich einig, daß er so, wie er jetzt gestaltet ist, verbesserungswürdig sei ­ der Spittelmarkt. Denn da sei ja gar kein Spittelmarkt mehr, sondern eine Fahrstraße. Nur daß Frau Lungwitz gar nicht nach dem Spittelmarkt gefragt hatte. „Wir kommen zum nächsten ­ Wie? Ob sie vorgebaut werden? Nein, Sie werden nicht vorgebaut, Frau Lungwitz." Stimmann ist interessiert, sucht den Dialog. Ein Stadtplaner, der an der Leipziger Straße wohnt und arbeitet, erklärt in einem langen Redebeitrag die heutigen Vorzüge der Gegend. Der Wochenmarkt habe Kiezcharakter, einer der wenigen Orte in der Umgebung, an dem man gerne in der Sonne sitzt ­ sein Verlust sei keine Verbesserung der Urbanität. Und die Hochhäuser bräuchten sowohl breite Abstandsflächen als auch die mittlerweile hochgewachsenen Bäume. Der Hinweis auf die historische Straßenbreite von 15 Metern tröste keinen. Stimmann bescheinigt ihm Talent im Formulieren, wie schön die Welt ist.

Der größere Teil der Anwohnerschaft hat sich jedoch ­ es mag die Erfahrung aus der ersten Runde „Planungswerkstätten" vor fünf Jahren sein ­ vom Argumentieren aufs Lachen und Applaudieren verlegt. Stimmanns Behauptung, die „Wiedergewinnung des Spittelmarkts" wirke identitätsstiftend, sorgt bei den älteren Herrschaften für unverhohlene Heiterkeit. Mit Lachsalven wird das Nutzungskonzept quittiert: hauptsächlich Büroflächen. Man könne doch mal auf Vorrat welche bauen, meint der Senatsbaudirektor. „Büroflächen kann man nie genug haben, so ähnlich wie Socken", raunt ein Herr aus dem Publikum. Dabei ist das Planwerk doch mit dem Anspruch angetreten, Wohnraum in der Innenstadt zu schaffen. Einen klaren Kopf bewahrt Katrin Lompscher (PDS) und bemerkt, daß allein der Umbau der Brücken dreistellige Millionenbeträge kosten würde ­ was auch die Verkäufe öffentlichen Baulands kaum aufwiegen dürften. Und das bei einer Verschlechterung der Wohnqualität der Anwohner. Sie fordert, die Planung zurückzustellen. Stadtentwicklungsstadträtin Dorothee Dubrau hält bei der heutigen Bevölkerungsdichte von 350 Einwohnern pro Hektar die Abstände der neuen Häuser zu den alten für zu gering und eine Teilbebauung des „Friedrichswerder" für falsch. Jedoch wird ihre Kritik folgenlos bleiben, denn wegen „außergewöhnlicher stadtpolitischer Bedeutung" hat der Senat die Planung an sich gezogen. Bleibt zu hoffen, daß es vielleicht auch die Investoren komisch finden werden, Büroräume mit 15 Metern Sichtweite zu Wohn- und Schlafzimmer zu planen.

Tina Veihelmann

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