Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Savoir vivre und Hamburger-Wettessen

Die Berliner Volksfeste, vom Britzer Baumblütenfest über die Neuköllner Maientage bis zu den Kreuzberger Festlichen Tagen sind eine genuin Westberliner Angelegenheit; das Deutsch-Französische und das Deutsch-Amerikanische Volksfest schon im Namen erkennbar Relikte aus der Zeit des Kalten Krieges. Einzig der Weihnachtsmarkt Mitte in der Alexanderstraße ist ein Ost-Akzent auf dem Kalender der „Berliner Volksfeste 2001", aber die Weihachtsmärkte sind eigentlich ein anderes Kapitel. Von April bis Oktober bespielen die Berliner Schausteller die Festplätze zwischen Spandau und Britz mit ihren Schießständen, Geisterbahnen und Karussellen.

Schade, dicht daneben ist auch vorbei

Wirklich zentral liegt der Zentrale Festplatz in Tegel nicht. Am 15. Juni hat dort das Deutsch-Französische Volksfest, mit 120 Schaustellern das größte der Berliner Volksfeste, seine Pforten geöffnet. „Bonjour Berlin ­ Hallo Frankreich". Eintritt 3 Mark.

Ein erster Versuch, den Festplatz zu erreichen, mißlingt freilich. Mit meinen motorisierten Freunden, so dachte ich, würde es einfacher, vor allem schneller möglich sein, den peripheren Westberliner Ort von Mitte aus zu erreichen. Doch weit gefehlt! Schnell sind wir die Chaussee- und die Müllerstraße hochgefahren, wo Frankreich bereits mit dem Centre Francais de Berlin Präsenz zeigt. Im afrikanischen Viertel sorgen dann die deutsche und die französische Kolonialgeschichte für Gesprächsstoff. Nachdem wir am Kurt-Schumacher-Platz zweimal eine falsche Abzweigung erwischt hatten, einmal in Richtung Borsigwerke, einmal in Richtung Bonhoeffer-Nervenklinik, landen wir auch glücklich auf dem Kurt-Schumacher-Damm. Hinter den Bäumen ragt schon der beleuchtete Turm des COUNTDOWN hervor, jener Jahrmarktssensation, vermittels derer man angeblich die „Grenzen der Schwerkraft" kennenlernen kann. Doch dort, wo man jetzt eine Abzweigung zum Festplatz erwarten würde, wird man unvermittelt in die Stadtautobahn hineingesogen und hat auch schon, ehe man sich versieht, den Hohenzollernkanal überquert – keine Chance.

Glück gehabt??? wir wünschen es ihnen

Also nehmen wir die nächste Ausfahrt, es ist die zum Flughafen. Jetzt gibt es kein Entrinnen aus dem Flughafen-Kreisel, der den Verkehr am Empfangsgebäude vorbeischleust. Die nächste Abzweigung, Zufahrt zum Novotel, erweist sich als Sackgasse. Zum Greifen nahe blinkt die ganze Zeit der COUNTDOWN-Turm. Zurück auf die Autobahn, und noch einmal, eine Ausfahrt zum Festplatz gibt es nicht. Der Saatwinkler Damm befördert uns vollends ins Abseits, Westhafen, Plötzensee, Heiland-Kirchhof, im Dunkel des Volksparks Rehberge verlieren wir die Orientierung; jetzt ist nicht einmal mehr dieser Turm zu sehen. Auf der Afrikanischen Straße beschließen wir dann den Rückzug.

immer munter rauf und runter

Mit der BVG ist der Zentrale Festplatz besser zu erreichen, Haltestelle Aristide-Briand-Brücke. Am Eingang lockt ein potemkinsches Loire-Schloß, doch hat man den Festplatz einmal betreten, geht es zunächst doch ziemlich deutsch zu: zur Linken als erster Stand ALT-BERLIN: „Fleischspieß, Currywurst, Bärenfang, Danziger Goldwasser". Der Name ZUM SÜßEN FRIESEN beschäftigt die Phantasie, WILDE MAUS heißt die obligatorische Achterbahn, es gibt eine JAGDHÜTTE und ein CAFÉ SANSSOUCI, gar ein BERLIN SCHIEßZENTRUM. All das wird man dann auf den anderen Volkfesten auch wieder finden können.

Augen zu und durch

Ein halber Meter Bratwurst kostet 5 Mark. „No risk, no fun" ist die Maxime des COUNT-DOWN. 60 Meter rast die Kabine mit den johlenden Passagieren auf und ab. „Ihr habt es geschafft" werden sie über Lautsprecher zum Narren gehalten – gar nicht wahr, die Kabine schnellt schon wieder hoch. Die ei-gentliche Herausforderung heißt aber SLING SHOT – eine Konstruktion, die aus Kärnten herangekarrt wurde. Zwei Personen werden in einer an Seilen befestigten Kugel 100 Meter weit geschleudert. Bestimmt hat Landeshauptmann Haider diese Mutprobe schon bestanden. 40 Mark kostet der Spaß, für 20 Mark bekommt man eine Videodokumentation seiner Heldentat.

Nur wer Gefährlich Lebt hat Wirklich Gelebt (Nietzsche)

Mit diesem Zitat bewirbt das WORLD ACTION TEAM seine SHOW DER SENSATIONEN, eine „Super Bike Show". BLACK HOLE, eine neue Mischung aus Geister­ und Achterbahn verspricht vollkommene Dunkelheit, während sich PSYCHO als die „1. Katastrophen-Simulationsanlage der Welt" empfiehlt. Harmloser die WALZERFAHRT, von der einem „Siesta Mexicana" entgegendröhnt. „Wir halten auch wieder an", wird dem Fahrgast immerhin versichert.

Nicht nur die Eltern können sich laben, nein auch die Kinder soll'n ihre Freude haben

Irgendwann dann ELKES CREPERIE, immerhin. Ein GOURMET-Stand hat nur Folienkartoffeln und Pfannengerichte anzubieten. Auf dem Trampelpfad, auf dem der Besucher ins Festgelände hineingeschleust wird, wechseln sich das TOLLHAUS, eine BERLINER RUTSCHE und der TANZ DER VAMPIRE ab. Dann, endlich, eine Crêperie mit dem richtigen Akzent, und schon ist ein kleiner Eiffelturm in Sicht ­ das französische Dorf. Das „Weinland Frankreich" präsentiert sieben Regionen, für den Berliner Biertrinker gibt es Kronenbourg. Es ist nicht schwer, sich zwischen den Kulissenhäuschen zu orientieren: „Je südlicher man ist, desto heller und sonniger werden die Farben." Ein Junge ist ganz stolz: „Ich habe eine Schnecke gegessen!" Er hätte auch Froschschenkel probieren können. Eine etwa 50jährige Frau meint zu ihrem Gatten: „Ich werd' nie nach Frankreich fahren!" Die Gastronomen, die hier Wein, Baguettes und Flammkuchen anbieten, sind echte Franzosen. In Reinickendorf können sie gerade damit rechnen, daß ihr charmantes „merci" verstanden wird, sie sprechen alle Deutsch.

Ich steuere das MOULIN ROUGE an, vor dem, in einem zweiten Miniatur-Eiffelturm postiert, eine Chansonnière gerade ihren Auftritt beendet, von einer anderen Bühne ist Akkordeonmusik zu hören. Im Cocktailangebot: „Orgasmus" und „Embrio".

Auch das 40. Deutsch-Amerikanische Volkfest, das am 28. Juli auf der Truman Plaza in Zehlendorf eröffnet wird, wirft seine Schatten voraus. Das Motto: „Rodeo USA". Für die „typisch amerikanische Kleinstadt" werden 5000qm Fassadenfläche handbemalt, es wird dort Lokale wie COWBOY JIMMY'S STEAKHOUSE geben. Besondere Höhepunkte werden die Wahl der „Miss Deutsch-Amerikanisches Volksfest" am 15. und ein Hamburger-Wettessen am 10. August sein.

Florian Neuner

Deutsch-Französisches Volksfest, noch bis zum 15. Juli, Zentraler Festplatz am Kurt-Schumacher-Damm, Tegel

Deutsch-Amerikanisches Volksfest, 27. Juli bis 19. August, Gelände am Hüttenweg/Clayallee, Zehlendorf

© scheinschlag 2001
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 07 - 2001