Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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All meine Pfade rangen mit der Nacht

Der expressionistische Dichter Jakob van Hoddis

Die gedrungene, verwahrloste Gestalt des jungen Mannes war am Vorabend des ersten Weltkriegs ein vertrauter Anblick in der Berliner Bohème: In seinen expressionistischen Versen kombinierte er „visionäre und sarkastische Züge" mit „vulgärem Berliner Argot", und wenn Jakob van Hoddis eine Kränkung witterte oder ihm Pläne seiner Künstlerfreunde mißfielen, fauchte er „wie ein Igel geduckt" gegen alles und jeden. Seine Schaffenszeit war kurz und intensiv, der weitere Verlauf seines Lebens tragisch: 1915 wurde der Sohn eines jüdischen Arztes durch den Ausbruch einer Schizophrenie zum lebenslangen Psychiatrie-Patienten. Jetzt ist ihm eine Austellung im Centrum Judaicum gewidmet.

Von Hans Davidsohn, wie van Hoddis eigentlich hieß, ist heute außer dem berühmten Achtzeiler „Weltende", der es in Anthologien und Deutschbücher geschafft hat, kaum etwas bekannt. Er produzierte nur ein schmales Werk, und von der kurzlebigen Existenz mancher Arbeiten weiß man lediglich durch Zeitzeugen: Hoddis, der immer sämtliche Manu-skripte bei sich trug, hat sie auf seinen rastlosen Wanderungen durch Berlin und München einfach verloren. Für die Ausstellung ist dieser Mangel an Zeugnissen auf Papier kein Nachteil: Durch Tonträger und Video unterstützt, skizziert sie mit Hilfe weniger, gut gewähler Exponate Lebensräume und Einflüsse. Unter dem Motto „Berliner Kindheit um 1900" kommt im ersten Raum vor allem die Mutter als
aufmerksame Chronistin einer bürgerlich-jüdischen Familie zwischen Tradition und Assimilation zu Wort. Die Jahre von 1909 bis 1914, während der Hoddis in den Kreisen der Bohème dichtete und lebte, dokumentiert der nächste Teil, in dem man auf einige bekannte und eine Vielzahl heute vergessener Künstler trifft: Mit Georg Heym verband Hoddis eine problematische Freundschaft, Emmy Ball-Hennings war seine große unerfüllte Liebe, Else Lasker-Schüler empfahl ihn als sehr begabt den Zeitschriften Sturm und Fackel. Aufbruch lag in der Luft: Im Neuen Club am Hackeschen Markt trug man Dichtung und utopische Pamphlete vor, im Café Größenwahn wurden avantgardistische Zeitschriften geplant, man kommentierte die ersten Kinofilme und trieb sich nachts in den Randbezirken der wuchernden Großstadt herum. Zu diesem bewegten Abschnitt bildet die Kargheit der dritten Station der Ausstellung einen starken Kontrast: Sie fängt 27 stille, zeugnisarme Jahre ein, die Hoddis nach dem schleichenden Übergang von künstlerischer Exaltiertheit zu schizophrener Erkrankung in psychiatrischer Pflege verbrachte. Mutter und Geschwister emigrierten 1933 nach Palästina. Ihn mußten sie in den modernen „Israelitischen Heilanstalten" Bendorf Sayn zurücklassen, wo er aber zunächst gut untergebracht schien. Die vermeintliche Sicherheit endete Anfang der vierziger Jahre, als Kranke und Pflegepersonal nach und nach von der großen Deportationswelle erfaßt wurden:
Neben Auszügen aus Krankenakten und Zeichnungen des Patienten Jakob van Hoddis hängt die Namensliste des Transports vom 30. April 1942, mit dem auch Hans Davidsohn in den Distrikt Lublin verschleppt wurde, um kurz darauf – wahrscheinlich im Vernichtungslager Sobibor – ermordet zu werden.

Annette Zerpner

„All meine Pfade rangen mit der Nacht – Jakob van Hoddis/Hans Davidsohn (1887–1942)" ist bis zum 31. August in den historischen Räumen der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Oranienburger Str. 28/30, Mitte, zu sehen.
Ein ausführlicher Katalog ist im Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main, erschienen.

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