Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
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Fünfzig Mark fürs Ave Maria

Berliner U-Bahn-Musiker auf Standortsuche

Jeden Mittwochmorgen um sieben Uhr trifft sich im U-Bahnhof Kleistpark der Untergrund der Berliner Musikszene. Nur ist vom Charme einer Hauptstadtbohéme kaum etwas zu spüren.

Eine Frau trägt schwer an ihrem Keyboard und stellt es ab, der Alte mit dem Geigenkasten hat es leichter. Einige Männer rauchen „Kasbek" ­ russische Zigaretten, auf deren Mundstücke sie erst mit den Zähnen beißen, bevor sie der dünnen Pappe mit den Fingern die endgültige Form geben. Die Rauchzeichen ersetzen das Gespräch. Viel zu sagen haben die Kollegen einander nicht, man trägt sich in die Liste ein und wartet auf die Verlosung der Bahnhöfe. Allwöchentlich veranstaltet die BVG hier eine etwas bizarre Lotterie. Pünktlich um halb acht werden am Schalter die Namen aufgerufen. Der Künstler greift in einen Beutel und entnimmt eine der gelben Kapseln, die an Überraschungseier erinnern. Eine junge Frau tritt enttäuscht beiseite.

„So, ich gehe nach Hause, schlafen." Gerade hat sie eine Niete gezogen ­ Nummer 31 ­ und wenig Lust, nun stundenlang herumzustehen. Dann bleibt sie aber doch. Vor ihr werden dreißig andere sich die Bahnhöfe aussuchen dürfen ­ für jeden Tag einen anderen, so wollen es die Bestimmungen. Das für zwölf Mark fünfzig pro Tag, darin eingeschlossen ist der Fahrschein für den kürzesten Weg zum Spielort und zurück. Bevorzugt werden Standorte à la Friedrichstraße oder Stadtmitte. Die Entscheidung will gründlich überlegt sein und dauert. Von sieben möglichen werden meist nur vier ausgewählt. Denn zum Wochenende gebe es kaum Publikum, und auch der Montag lohne nicht, die Leute seien zu frustriert, würden an dem Tag keine Musik hören wollen, geschweige dafür zahlen.

Direkt in den U-Bahn-Zügen mag die junge Frau nicht spielen, gleichwohl sie das Geld zum Musikstudium gut gebrauchen könnte. Man verdiene wesentlich besser zwischen den Haltestellen ­ „aber immer mit der Angst im Nacken, das ist kein Zustand". Regelmäßigen Kontakt mit den Wachschützern habe sie trotzdem: Nahezu täglich werde ihre Spielgenehmigung kontrolliert, „nur könnten die wenigstens warten, bis das Lied zu Ende ist". Nummer 31 zu sein ist bitter, man ist fast das Schlußlicht. Ein wenig Hoffnung aber bleibt. Auch auf Bahnhöfen, die sonst keiner gerne nimmt, wie etwa dem Heidelberger Platz, meint sie mit ihrer Gitarre noch arbeiten zu können. Der Alexanderplatz ist ihr zu laut, da könne man nicht singen, der sei was für Russen mit Akkordeon, und der U-Bahnhof Stadtmitte mit seinem langen Gang ist zu trocken. „Bei der Luft dort kannst du nur zwei Stunden singen, es sei denn, du trinkst dauernd Tee, aber dann brauchst du auch ein Klo."

Der Russe, der nach ihr in den Beutel gegriffen hat, scheint auch nicht vom Glück verfolgt zu sein. Nur ist Nummer 27 eben deutlich besser als die 31. „Berliner alles Bauern", sagt er im gebrochenem Deutsch, während seine Augen sich suchend umschauen. Nein, dafür habe er nicht in Leningrad das Konservatorium besucht. Sein Freund und er wären längst verhungert mit dem Cello, wenn sie weiter Dvorak zum Besten gegeben hätten oder die Cello-Suiten von Bach. Mittlerweile leben beide vom Ave Maria. Der Russe schüttelt sich: „Hundertmal am Tag!" Das Stück gehört scheinbar zum Standardrepertoire Berliner U-Bahn-Musiker. Der Landsmann neben ihm ergänzt: „Ich muß dauernd Kalinka spielen." Wie zum Beweis hält er seine Mandoline hoch. Das Leben kann hart sein. Die schlimmen Zeiten aber stehen ihnen erst bevor: In ein paar Monaten ist wieder Weihnachten.

„Das wird grausam", sagt der Russe, „Stille Nacht, heilige Nacht." Die Studentin kann darüber nur lächeln. Der wirkliche Underground-Hit ist zweifelsohne ­ „aber das können die Russen nicht spielen" ­ Don't worry, be happy von Bobby Mc Ferrin. Kein Song gebe den Leuten mehr Trost auf dem Weg zur Arbeit. „Und wenn ich dann auch noch Über den Wolken bringe, wo die Freiheit so grenzenlos sein soll, ist die Kiste zu meinen Füßen voll."

Wenn die Frau sich jetzt einen Bahnhof wünschen dürfte, würde sie Gesundbrunnen nehmen. Die Halle habe etwas von einem Konzertsaal. An den Imbißbuden stehen immer Leute – Arbeiter, die Pause machen. Manchmal legen sie statt Geld Kuchen in die Schachtel, einmal wollte man ihr sogar ein Schnitzel geben. Die Vegetarierin lehnte ab.

Der Russe sucht noch immer. Ein abseits stehender Herr winkt ihn heran. Beide wenden sich für einen Moment ab. Der Russe reicht ihm einen Geldschein. Plötzlich jubelt es am Schalter. „Ich hab's doch geahnt. Heute ist mein Tag!" ruft jemand. Sofort wird er umringt. Das kann doch nicht wahr sein, heißt es. Der Typ mit der Mundharmonika taucht hier als letzer auf und darf als dritter wählen! Dabei müßte er doch überall auf sein Geld kommen, dank dem Schäferhund, der ihn begleitet. Der Alte aber bestreitet das: „Wenn die Leute wegen dem Hund stehenbleiben, ihn vielleicht noch streicheln, sage ich immer: Gehen Sie weiter! Der hat zu fressen."

Die Lotterie ist zu Ende. Am Schalter werden die Preise verteilt. Als aber die Nummer 7 aufgerufen wird, meldet sich auf einmal der Russe, der eben noch die 27 hatte. Den eingetauschten neuen Zettel legt er vor, nimmt sich die Liste und kreuzt gelassen seine Bahnhöfe an. Seinem Glück hat er ein wenig nachgeholfen: fünfzig Mark fürs Ave Maria.

Karsten Krampitz

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