Ausgabe 07 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

750 Jahre Wedding

Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, als Berlin gemeinsam mit Cölln seine städtischen Privilegien verlor und in den Stand des kurfürstlichen Residenzsitzes erhoben wurde, reagierte die entmachtete städtische Elite mit einem Aufstand, dem sogenannten „Berliner Unwillen": Die aufgebrachten Bürger þuteten die Baustelle des als „Zwingburg" geplanten Stadtschlosses, um ihrer dauerhaften Unterwerfung entgegenzutreten. So erfrischend klar und zielgerichtet die Unternehmung war, so erfolglos war sie auch: Der Aufstand wurde niedergeschlagen, das Stadtschloß fertiggestellt und Berlin Residenzstadt, was für einige Jahrhunderte den Verlust vormals weitgehender Autonomie nach sich zog.

Das Verhalten der Nachfahren der geschlagenen Recken fünfeinhalb Jahrhunderte später stellt sich deutlich verschrobener dar, dürfte aber umso erfolgversprechender sein. Wenn die in 40 Jahren als dritter deutscher Staat liebgewonnenen Freiheiten und Vergünstigungen schon nicht vollständig zu retten sind, so haben sich die alten Westberliner Seilschaften wohl gedacht, muß den Eindringlingen vom Rhein wenigstens das Leben so schwer wie möglich gemacht werden. Dem „Konzept Imagebeschmutzung" der Anti-Olympia-Bewegung folgend wurde deshalb eine sogenannte Bezirksreform erdacht und der Wedding zum Bestandteil der Neuen Mitte erklärt. Damit wird der Weddinger Kampfhundebesitzer und die türkische Streetgang zum gesellschaftlichen Leitbild des neuen Deutschland, aus der Republik der Neuen Mitte wird die Weddinger Republik.

Der Wedding seinerseits blickt auf eine lange, wenn schon nicht stolze, doch zumindest sehr eigene Geschichte zurück. Zwei Urkunden vom 22. Mai 1251 erwähnen ein Dorf namens „Weddinge", das zu diesem Zeitpunkt allerdings schon nicht mehr existierte. Gegründet wurde es wahrscheinlich bereits um 1200 von einem Gefolgsmann der Askanier namens Rudolfus de Weddinge in der Nähe des heutigen Nettelbeckplatzes zwischen Panke und Reinickendorfer Straße. Der größte Teil des in dieser Zeit gerodeten Landes war inzwischen wieder zu Wald geworden, und über Jahrhunderte lebten hier nur wilde Tiere, Räuberbanden und anderes lichtscheues Volk.

Heute ist die Gegend um den Nettelbeckplatz trotz architektonischer Verirrungen infolge der Kahlschlagsanierung und trotz zweier Hauptstraßen ein überraschend ruhiger Ort. Daß hier 1929 die damalige sozialdemokratische Stadtregierung den „Blutmai" anrichtete, in dem sie die Maifeiern zusammenschießen ließ, ist kaum mehr vorstellbar. Es scheint, als sei hier irgendwann in den Siebzigern die Zeit angehalten worden. Etwas bedrohlich wirkt deshalb der Bau des S-Bahn-Nordrings. Bald schon wird der direkt am Platz gelegene S-Bahnhof Wedding wiedereröffnet und die Gegend womöglich aus dem Tiefschlaf gerissen. Neben dem Eingang liegt die Kneipe „Zum Magendoktor", eine Art Museum für Weddinger Geschichte und Gegenwart: An den Wänden hängen neben Jagdtrophäen, möglicherweise noch aus dem Weddinger Mittelalter, und Werbeschildern aus den letzten hundert Jahren die obligatorischen Spielautomaten. Daß der Magendoktor kein Museum ist, erkennt man jedoch spätestens an den festgeschraubten Barhockern. Bei Kneipenschlägereien soll wenigstens das Mobiliar unversehrt bleiben.

Übermäßig beliebt war der Wedding noch nie. Im Jahre 1828, als dort um die 2000 Menschen wohnten, lehnte selbst der Kreis Niederbarnim eine Eingemeindung ab, weil „die Kosten für eine Gemeindeverwaltung bei der notorischen Bedürftigkeit der Bewohner nicht aufzubringen wären". Auch in Berlin stieß die Eingemeindung des Wedding, die seit 1818 im Gespräch war, auf heftigen Widerstand. Die „Armen- und Verbrecherkolonie", wie die Berliner Stadtverordneten sich ausdrückten, wollte niemand haben. Erst durch eine Kabinettsorder wurde Berlin gezwungen, den Wedding am 1. Januar 1861 einzugemeinden. Auch die folgende explosionsartige Entwicklung zu einem Industriebezirk änderte nichts an seinem Ruf. Bis heute gehört die Gegend zu den ärmsten Berlins, und bis heute gelten ihre Bewohner als nicht so ganz einfach. Deshalb ist der Wedding der einzige Berliner Innenstadtbezirk, der vollständig yuppiesierungsresistent ist. Daran ändert auch der Trick nichts, den Wedding einfach Mitte zu nennen. Eher kommt der Wedding nach Mitte als umgekehrt. Der Wedding nämlich, das ist sicher, bleibt der Wedding.

Dirk Rudolph

© scheinschlag 2001
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 07 - 2001