Ausgabe 06 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Ich sehe was, was Du nicht siehst

In der „lesbaren Stadt" wird die Lebendigkeit urbaner Räume zu konsumierbaren Paraphrasen verkitscht.
Ein Plädoyer gegen den Städtebau aus Panoramasicht

Das Forum Hotel am Alexanderplatz bot unlängst die Kulisse für eine weitere der mittlerweile fast täglichen Debatten über die Berliner Stadtplanung. „Über der Stadt ­ Über die Stadt": Aus der herrschaftlichen Höhe des 37. Stocks betrachtet schien es plötzlich Sinn zu ergeben, über das Ganze zu reden. Von hier oben sieht die Stadt wie ein animierter Masterplan ihrer selbst aus. Der französische Soziologe Michel de Certeau hat einmal den „Panoramablick" als eine „Fiktion des Wissens" bezeichnet. Diese Fiktion des Wissens mache „die Komplexität der Stadt lesbar" und lasse ihre „undurchsichtige Mobilität zu einem transparenten Text gerinnen."

Mit der Textmetapher spielt auch das Planwerk Innenstadt, der große Wurf des Senatsbaudirektors, mit dem er die Berliner 1997 dazu brachte, den Blick auf die Stadt „als Ganzes" zu richten. Das
Planwerk sieht die Stadt als einen Text, der im 20. Jahrhundert bis zur Unlesbarkeit entstellt wurde. Mittels der „kritischen Rekonstruktion" historischer Grundrisse und Parzellenstrukturen soll Berlin wieder „lesbar" gemacht werden. Das dabei mitgedachte Bild der „machbaren" Stadt wird seit einiger Zeit durch hölzerne Stadtmodelle an verschiedenen Ausstellungsorten unters Volk gebracht. Das Volk steht vor den raumgreifenden Modellen wie vor einem Brettspiel und versucht sich in der ungewohnten Draufsicht zurechtzufinden. „Ich sehe was, was du nicht siehst."

Der Maßstab läßt dabei die Menschen verschwinden. Bei 1:500 hätten sie allenfalls Ameisengröße. Daß Marx, Engels und die „Goldelse" in der Modellstadt die einzigen menschenähnlichen Wesen bleiben, kann als harmlose Stilblüte verbucht werden. Die Fremdheit des Panoramablicks ist jedoch keine Marginalie. Die Topographie Berlins bietet keinen natürlichen Ort, von dem aus sich die Stadt dem Panoramablick erschließt. Die wenigen öffentlich zugänglichen Gebäude, die eine Aussicht versprechen, werden fast ausschließlich von Touristen frequentiert. Berlin präsentiert sich seinen Bewohnern auf Augenhöhe. Dieser situative Bezug zur Stadt fördert ein ständiges Gefühl des Mittendrinseins und ist wohl nicht unwesentlich für die oft zitierte Polizentralität Berlins verantwortlich. Für Berlin ist der Panoramablick nicht nur eine Fiktion der Macht, sondern auch ein lebensweltliches Trugbild, für das, so der Verdacht, in besonderer Weise gilt, was Michel de Certeau allgemein formuliert: Es verdankt sich „einem Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge".

Das Planwerk Innenstadt hat sich die immense Fiktion eines Stadtkörpers, dem die Zeit Wunden geschlagen hat, zu eigen gemacht. Die „kritische Rekonstruktion" gibt sich als eine Chirurgie, die sich historische Stadtpläne wie Röntgenbilder vorhält, nach denen der ramponierte Patient wieder lebenstüchtig gemacht werden soll. Vor allem das Herz sei der Stadt herausgerissen worden durch zwei scheinbar gleichermaßen barbarische Eingriffe: den Krieg und die Moderne. Während der Alexanderplatz als „Schandmal" auf dem Körper der Stadt gilt, richten sich die Begehrlichkeiten derzeit auf das Berliner Stadtschloß – als „verlorenes Herz" und als prominentestes Opfer der unheiligen Allianz zwischen Krieg und DDR.

Ein ähnliches apologetisches Bemühen um historische Fiktionen ließ sich auch schon bei der Bebauung des Potsdamer Platzes und der „Rekonstruktion" der „Hackeschen Höfe" beobachten. Für den Potsdamer Platz, der in den güldenen zwanziger Jahren vor allem ein überlasteter Verkehrsknotenpunkt war, wurde der Mythos des „einst lebhaftesten Platzes" Europas bemüht. Bei den Hackeschen Höfen wurde die architektonische Kleinteiligkeit der Spandauer Vorstadt mit alten und neuen Bohème-Klischees verkocht, um der Stadt ein pittoreskes Hofensemble als Konsumraum mit Atmosphäre schmackhaft zu machen. In beiden Fällen diente die historische Fiktion dazu, den Implantaten den Anschein von Authentizität zu geben.

Auf einer der letzten großen Freiflächen in der östlichen Mitte, dem keilförmigen Gelände, auf dem das Kunsthaus Tacheles steht, kündigt sich ein weiteres Kapitel des Projekts „lesbare Stadt" an. In das geplante „Johannisviertel" – ein künstliches Quartier mit neotraditionalistischer Architektur und niedlichen Höfen – soll das Kunsthaus Tacheles integriert werden. Diese joviale Geste zeigt mehr noch, als jede Abrißbirne es könnte, den Domestizierungszwang des Vorhabens „lesbare Stadt". Würde das Tacheles weggerissen, entstünde dort, wo eine Stadtwunde geschlossen werden sollte, eine neue. Zu nachhaltig haben das Gebäude und die Freiþäche im Zuge ihrer Folklorisierung die Imagination von Bewohnern und Besuchern geprägt.

Bei allem berechtigten Ärger über den Ausschluß der Öffentlichkeit nicht nur bei diesem Vorhaben sollte nicht vergessen werden, daß gerade der Kompromiß bisweilen tödlich sein kann. Die Domestizierung des Unkontrollierten wirkt nachhaltiger als seine Verdrängung. Der Fall des Tacheles steht nur exemplarisch für die Entwicklung des gesamten Viertels „Spandauer Vorstadt". Auf eine Phase des experimentellen und klandestinen Umgangs mit dem öffentlichen Raum folgt die Aneignung durch Investoren, die aus dem entstandenen „Flair" ProÞt schlagen. In der „lesbaren Stadt" werden noch die Risse und Kakophonien zu konsumierbaren Paraphrasen verkitscht.

Wird man an diesen Orten, an denen man scheinbar so perfekt in die Kulisse passt, jemals ein bestimmtes Unbehagen los? Als würde von ganz oben jemand mitlesen: „Schau wie schön! Der da sieht aus wie ein Flaneur und wird doch gleich zumindest eine Zeitung kaufen oder seinen Frust in Haegen Dazs-Kalorien verbrennen oder wenigstens den im Café sitzenden und Cappuccino schlürfenden das Gefühl geben, sie seien Teil eines lebendigen urbanen Stadtbildes."

Die Arkaden, Höfe und Passagen, die bei Investoren weiterhin so beliebt sind, generieren eine besondere Form der Lesbarkeit: Indem sie sich dem Stadtbenutzer als leicht verständliche Parcours anbiedern, versuchen sie dessen Wege und Handlungen berechenbar zu machen. Unter dem Gebot der Rentabilität wird der Raum zur Prognose seiner Benutzung durch die Menschen, also Kunden. Die stets behaupteten Mischnutzung, die Vielfalt und Offenheit suggeriert, mündet in Eindimensionalität, Funktionalität und Kalkulierbarkeit.

Sind solche Inszenierungen nicht spätestens dann problematisch, wenn sie den Stadtbezug derjenigen an den Rand drängen, die mit den Orten einen sehr praktischen und persönlichen Umgang hatten, der nun nicht mehr möglich ist? Die Schein-Authentizität geht auf Kosten einer alltäglichen, situativen Authentizität, die sich weder primär an Produktivitätsstandards, und schon gar nicht an Konsumbedürfnissen orientiert. Warum sollten wir diese inszenierte Lebendigkeit den unspektakulären Improvisationen des Alltags vorziehen? Die Plötzlichkeit einer momentanen Stimmung, eines manchmal auch grotesken Sich-woanders-Fühlens ist gerade an solchen störrischen Orten wie dem Alexanderplatz möglich. „Der Alex ist heute der einzige Stadtplatz der Welt ohne Straßencafé", schrieb Michael Mönninger einmal in der „Frankfurter Allgemeinen" ­ die einzigen Sehenswürdigkeiten Würstchenbuden, þiegende Händler und Erich Johns Urania-Weltzeituhr, deren Zeiger jedoch merkwürdigerweise in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig zeigten. Der Städtebau am Alexanderplatz ist zwar nicht unschuldiger als andernorts, jedoch nötigt die Kulisse nicht mehr dazu, sich in einer bestimmten Weise zu fühlen oder zu verhalten. So läßt der Platz eine eigene praktische Aneignung zu. Nicht der Vorzeigesalon, sondern die Küche mit dem Resopaltisch, an dem sich das Alltagsleben abspielt.

Es wird darum gehen, daß sich die Stadtgesellschaft nicht den Schneid abkaufen läßt. Dabei ist jedoch weder die Bebauung des Stadtraums, noch dessen Funktionalisierung ein grundsätzliches Hindernis. Bebauung schafft Räume und Übergänge. Das Hauptanliegen sollte nicht sein, Brachflächen zu verteidigen, sondern den bebauten Raum jenseits vorgesehener „Mischnutzung" benutzbar und bespielbar zu halten. Möglicherweise lassen sich sogar solche Orte eher in Besitz nehmen, die die Banalität ihres Gebrauchswerts nicht kaschieren. Vielleicht ist die klare Funktionalität etwa einer Shopping Mall dafür noch offener, als die verhübschten Inszenierungen, deren suggestive Aufgeladenheit das eigene Erleben zu vereinnahmen trachtet. Der vertraute Umgang mit den bekannten Mustern ermutigt zu einer gewissen Ungezwungenheit. Und eine Portion Respektlosigkeit gehört dazu, einen Stadtraum zu bespielen.

„Das Alltägliche setzt sich aus allen möglichen Arten des Wilderns zusammen", erinnert uns der bereits zitierte Michel de Certeau. Als Konsumenten, Benutzer, Bewohner haben wir es zwar immer schon mit Produkten und Räumen zu tun, die uns vorgegeben sind. Zwischen uns und diesen Vorgaben gibt es jedoch stets den Spielraum des Gebrauchs. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Und das gilt auch für die Stadt, gerade in Zeiten ihrer „Machbarkeit".

Tina Veihelmann und Tobias Hering

Der Beitrag ist in anderer Fassung im Freitag Nr. 21/2001 erschienen

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