Ausgabe 06 - 2001 berliner stadtzeitung
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Alle fünf Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch an Tuberkulose

Lydia Rabinowitsch-Kempner (22.8.1871 Kowno/Litauen ­ 3.8.1935 Berlin)

„Die Tuberkulose ist eine soziale Krankheit. Hinsichtlich ihrer Ansteckungsgefahr und Sterblichkeit ist zu bemerken, daß sie die verschiedenen Bevölkerungsschichten um so härter trifft, je ungünstiger ihre Lage ist.
[...] Die Sterblichkeit einer Bevölkerungsschicht steigt, sobald die wirtschaftliche Lage sich verschlechtert." Das schrieb 1926 Lydia Rabinowitsch-Kempner, eine Ärztin und Frauenrechtlerin, die ihr Leben der Erforschung der Tuberkulose widmete, einer Krankheit, die damals allein in Preußen jährlich 60000 Tote forderte. Obwohl viele Fachkollegen, Robert Koch eingeschlossen, den Tuberkel-Erreger bei Tieren als harmlos betrachteten und vorbeugende Maßnahmen ablehnten, warnte die junge Ärztin vor der Infektion von Menschen durch den Rinderbazillus. Seit 1895 untersuchte sie auch die Milchprodukte einer der größten Molkereien Berlins: Bolle, die täglich über 40000 Liter Milch verkauften, hatten mit kontaminierter Milch und Butter Tausende Berliner in Gefahr gebracht. Zusammen mit Dr. Lydia-Rabinowitsch-Kempner wurde ein Pasteurisierungsverfahren entwickelt, das keimfreie Milch lieferte und das im Prinzip bis heute Anwendung findet.

Lydia Rabinowitsch hatte in der Schweiz studiert, da dies anderswo für Frauen noch nicht möglich war. 1894 verteidigte sie ihre Dissertation mit summa cum laude. Im selben Jahr begann sie ihre Berufstätigkeit als erste weibliche und unbezahlte Assistentin am Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten unter Robert Koch.

1895 trat sie für drei Jahre eine Dozentenstelle im „Woman´s Medical College of Pennsylvania" an, der ersten Frauenuniversität in Philadelphia, wo sie ein Bakteriologisches Institut gründete und 1898 zur Professorin ernannt wurde.

Nach Berlin zurückgekehrt, heiratete Lydia Rabinowitsch, gebar drei Kinder ­ und blieb im Beruf, damals noch höchst unüblich: von 1903 bis 1920 am Pathologischen Institut der Universitätsklinik Charité als ­ weiter unbezahlte ­ Assistentin. 1912 wurde ihr als zweiter Frau in Preußen der Professoren-Titel verliehen, mit dem aber keinerlei Rechte in der Fakultät und keine Lehrbefugnis verbunden waren.

Zur umfangreichen Publikations- und Vortragstätigkeit der Bakteriologin kam 1914 die Redaktionsleitung der weltweit einzigen „Zeitschrift für Tuberkulose" sowie ihr Einsatz als Fachberaterin zur Seuchenvorbeugung beim Generalstabsarzt des Reichsheeres im Ersten Weltkrieg. Tragischerweise starben sowohl Rabinowitsch' Mann, der Arzt Walter Kempner, als auch die Tochter an Tuberkulose.

Mit 49 Jahren wurde Rabinowitsch schließlich 1920 mit der Leitung des Bakteriologisch-Serologischen Instituts am Städtischen Krankenhaus Moabit beauftragt, wo heute eine Ausstellung und eine Gedenktafel an sie erinnern. Nach 25-jähriger Berufstätigkeit hatte die Ärztin hier erstmalig eine feste Anstellung und ein angemessenes Gehalt.

Außerdem war Lydia Rabinowitsch-Kempner seit ihrer Jugend in der Frauenbewegung engagiert: So war sie 1899 Mitgründerin des „Vereins zur Gewährung zinsfreier Darlehen" an studierende Frauen, dessen Vorsitzende sie bis 1930 blieb, Mitglied im Verein „Frauenwohl" und im „Bund für Mutterschutz und Sexualreform". Sie kämpfte für das Frauenstimmrecht und die Zulassung von Frauen an Universitäten.

1933 wurde Lydia Rabinowitsch-Kempner Ehrenmitglied der „Schottischen Tuberkulose-Gesellschaft". In Deutschland begann die Verfolgung jüdischer Ärzte. Auch Lydia Rabinowitsch wurde aus ihren Ämtern gedrängt und 1934 zwangspensioniert.

Den beiden Söhnen gelang die Flucht aus Deutschland in die USA.
Der jüngere ­ Robert Kempner ­ war Hauptankläger im Nürnberger Prozess.

Sabine Krusen

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