Ausgabe 06 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Kopf in der Schlinge, Hals drüber

Der Berliner BasisDruck Verlag meldet sich vom

Siechlager zurück

Totgesagte leben länger ­ diese Volksweisheit kann der BBDV auf der Haben-Seite verbuchen.

Nach der Wende wurde er als erster unabhängiger Verlag der DDR gegründet, hervorgegangen aus einem Mitteilungsblatt des „Neuen Forums".

Vom ersten Buch des Verlages, Ich liebe euch doch alle ... ­ Befehle und Lageberichte des MfS, wurden eine halbe Million Exemplare verkauft und so der Grundstein für die kommende Verlagsarbeit gelegt, meist DDR-spezifische Themen. Parallel entstanden ehrgeizige Zeitschriftenprojekte wie „Die Andere Zeitung" oder „Ypsilon", eine Frauenzeitschrift, sowie „Sklaven". Davon blieb einzig die Zeitschrift „Gegner" übrig, die auf dem Zeitschriftenmarkt ein kaum merkbares Lüftchen erregt.

Doch seit Jahresbeginn weht bei BasisDruck ein frischer Wind. Die Pamphlete-Reihe wurde aus der Taufe gehoben. Bisher wurden sechs Titel vorgelegt. Die Bücher sind in grauer Broschur gehalten, eine einfache Fadenheftung hält sie zusammen, sie kosten zwischen 22 und 28 Mark. Laut Verlag soll die langfristig angelegte Reihe Texte präsentieren, „die hohe Sprachkraft mit gesellschaftlichem Engagement vereinen und auf ihre Weise die Dokumentationen und Analysen des osteuropäischen Umbruchs (...) ergänzen und erweitern."

Die bisher vorliegenden Bücher bestätigen diese Aussage zumindest teilweise. Als erster Band erschien Franz Jungs Erzählung Die Verzauberten. Jung, geistiger Stammvater der Zeitschriften „Sklaven" und „Gegner", schildert in dem halbbiographischen Text die Liebe zu Anna von Meißner während der Budapester Kriegsjahre. Die Erzählung des „großen Unverantwortlichen", tauchte 1996 wieder auf und wurde jetzt von Walter Fähnders herausgegeben.

Auch Die nabellose Welt des großen DDR-Romanisten Werner Krauss ist ein Buch, das von BasisDruck vor dem Verschwinden gerettet wurde. Schon in den sechziger Jahren geschrieben, ist der Kurzroman eine negative Utopie, eine bösartige Karikatur auf den Alltag der DDR zwischen Sexorgien und Wettkämpfen aller Art.

Das dritte Buch der Reihe, die surrealistischen Theatertexte des Tschechen Nezval von 1922-1927, zusammengefaßt unter dem Titel Depesche auf Rädern, sind auch „aus dem Archiv geholt". Absurde Dialoge, großes Wüten, ein Bilderschmaus in Worten.

Ulrich Ziegers Willkommen und Abschied, eine im Verlagsprogramm als Erzählung, im Buch selbst als Nacherzählung bezeichnete Arbeit, kommt nicht nur in der Frage der literarischen Gattung mehrdeutig daher. Zieger, ein Satzbastler und Wort-Minenleger, ist ein Außenseiter mit Qualität ­ nichts von neuberlinerischer Schenkelklopferei, die uns sonst aus jedem Verlagsprogramm anlacht und die Herren und Damen der neuen Mitte im „Kaffee Burger" oder einem anderen Tempel der Lustbarkeit unterhält.

Womit wir beim fünften Titel wären, dem Haarbogensturz von Bert Papenfuß. „Versuche über Staat und die Welt" nennt er es im Untertitel, doch allerhöchstens als Versuchsballon, dem auf halbem Weg die Luft ausgeht, kann man die Sammlung charakterisieren. Das Buch ist eine gnadenlose Abrechnung mit der Technopest, Milchkaffeestudenten, Schlingensief und Lumpenintelligenzia, Grund, Gosse und Gülle. Aber der sensible Dichter resümiert auch in heiterer Selbstprüfung: „Allein, ich kann heut noch nicht verstehen, warum ich meinen Kumpels, nur weil sie plötzlich Kneiper sind, Geld, und noch dazu so viel, dafür geben soll, daß ich einen mit ihnen saufe." Mit Papenfuß gesprochen: „Die Substanz der Tirade ist, wie die Tirade selbst, Oranie."

Der sechste Band, der im Juni erscheint, verspricht dagegen Aufregendes! Strontium dokumentiert einen Briefwechsel zwischen Jes Petersen, Raoul Hausmann und Franz Jung. Die fast 200 Briefe erzählen von den Schwierigkeiten und den Verbindungen innerhalb einer Kulturszene, die sich den Verhältnissen Westdeutschlands der beginnenden sechzigerJahre verweigert. Sorgsam von Andreas Hansen editiert, entstand ein bemerkenswertes Buch „zur Entgiftung des Einzelnen".

Ruth Putzke

Franz Jung: Die Verzauberten. 24DM

Werner Krauss: Die nabellose Welt.
38 DM

Vitezslav Nezval/Karel Teige:
Depesche auf Rädern. 22 DM

Ulrich Zieger: Willkommen und
Abschied. 30 DM

Bert Papenfuß: Haarbogensturz. 28DM

Jes Petersen: Strontium. Briefwechsel mit Raoul Hausmann und Franz Jung 28 DM

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