Ausgabe 06 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Am Anfang war es Provokation

Thomas Ernst beschreibt, wie ein literarisches Projekt vor die Hunde geht

Was haben H.C. Artmann und Benjamin von Stuckrad-Barre gemeinsam, der bedeutende Exponent einer literarischen Nachkriegsavantgarde und der modische Produzent von Unterhaltungsware für den intellektuell anspruchslosen Teil der Generationen Golf, X oder auch Berlin? Nun, im Prinzip natürlich nichts. Dennoch tauchen beide Namen in Thomas Ernsts Buch über Popliteratur auf. Erschienen ist das Bändchen in der neuen Reihe „Rotbuch 3000", die in prägnanter Form und reich bebildert in viel diskutierte Themen einzuführen sucht. Neben „Popliteratur" sind das u.a. „Gentechnologie", „Migranten", „Sexualität" und „New Economy". Die derzeitige Popularität der Stuckrad-Barres, Christian Krachts und Benjamin Leberts ist wohl dafür verantwortlich, daß sich in der Rotbuch-Reihe überhaupt ein Literaturthema findet. Die deutsche Literatur, so kann man heute ja überall hören, befinde sich im Aufwind. Bloß was für eine Literatur!

Die Texte der gegenwärtigen Popfraktion unter literarischen Gesichtspunkten zu diskutieren, lohnt sich eigentlich nicht, denn diese Autoren haben nichts zu bieten, haben nichts gelesen und können auch nicht schreiben. Ihre harmlose, leicht konsumierbare, affirmative Literatur kann allenfalls unter soziologischen Gesichtspunkten interessieren, als die Literatur zu Schröders „Berliner Republik". Die Namensgalerie auf dem Umschlag des Buches – Ginsberg, Brinkmann, Goetz, Kracht etc. – kann also nicht die Genealogie einer literarischen Bewegung sein. Thomas Ernst macht in seinem Buch vielmehr deutlich, wie ein ursprünglich subversives Projekt, das Hereinholen von Versatzstücken der Populärkultur in die „hohe Literatur", im Laufe der Jahre auf den Hund gekommen ist. H.C. Artmann proklamierte 1964: „Popliteratur ist einer der wege, der gegenwärtigen literaturmisere zu entlaufen." Diesem Konzept eignete damals, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der „Beat Generation" in den USA, eine gewisse Sprengkraft. Autoren wie Hubert Fichte oder Rolf Dieter Brinkmann haben daran produktiv weitergearbeitet. Heute, so könnte man sagen, ist die Popliteratur die gegenwärtige Literaturmisere. „Der Begriff Popliteratur steht heute für eine beliebige Unterhaltungsliteratur", schreibt Thomas Ernst unmißverständlich und möchte die Sache doch noch nicht ganz verloren geben. Einen möglichen Ansatz sieht der Kölner Publizist und Literaturwissenschaftler beispielsweise in der „Kanak Sprak" eines Feridun Zaimoglu.

Das knapp 100 Seiten umfassende Buch ist materialreich, allzu materialreich, muß man wohl sagen. Beinahe unternimmt es Thomas Ernst, eine kursorische Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur zu schreiben, und es sind doch nicht alle dieser Strömungen von der neuen Innerlichkeit über den Dokumentarismus bis zur postmodernen Philosophie wirklich relevant für eine Betrachtung des Phänomens Popliteratur, das uns, es steht zu befürchten, wohl noch einige Zeit beschäftigen wird.

Florian Neuner

Thomas Ernst: Popliteratur. Rotbuch 3000, Rotbuch Verlag, Hamburg 2001. 16,90 DM

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