Ausgabe 06 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin Alexanderplatz

Markt der Nächstenliebe vor den Toren der Stadt

Zu den Besonderheiten der Hauptstadt zählt der Umstand, daß ihr vielleicht ärmlichster Vorort direkt in der Stadtmitte liegt ­ der Alexanderplatz. Die hohen S-Bahnbögen an seinem Rand wirken wie Stadttore. Touristen können von hier geradeaus weiter laufen zum Neuen Berlin: ein längerer Spaziergang vorbei an der Straße Unter den Linden, dem berühmten Hotel Adlon und dem Reichstag.

Nicht wenige Besucher zeigen sich enttäuscht vom Alex, der so gar nichts mit Döblins Legende zu tun hat. Ein weit- gestrecktes DDR-Ensemble aus Forum-Hotel, Weltzeituhr und Brunnen der Völkerfreundschaft verliert sich in den Rudimenten alter und neuer Weltstadt-phantasien der Architekten. Aber wie einst im Mittelalter finden sich vor dem Stadttor die „Aussätzigen" wieder ­ die Schnorrer, all jene, die man ein paar Kilometer weiter nicht sehen will.

Am Besten haben es am Alexanderplatz noch die Musiker im U-Bahnhof. Der Verdienst ist nicht üppig, aber immerhin werden sie hier geduldet. Früher spielte die Musik noch woanders: in den Zügen. Polizei und Wachschützer hatten alle Hände voll zu tun. Kunst läßt sich nicht verbieten ­ wohl aber kontrollieren: Seit geraumer Zeit vergibt die BVG für ihre Bahnhofshallen Lizenzen. Ein Mäzenatentum besonderer Art, eine Spielgenehmigung kostet pro Tag zwölf Mark fünfzig, die erst mal verdient sein wollen. Dabei ging es Senat und BVG weniger um eine zusätzliche Einnahmequelle. Nach dem Motto: „Die Guten ins Töpfchen" waren die „Schlechten" die illegalen Ausländer. In Folge von Videoüberwachung, zunehmender Präsenz privater Sicherheitsdienste und Abschiebepraxis geben inzwischen andere den Ton an. Wenn überhaupt, sind in den Bahnen nur noch aus der EU stammende Musiker zu hören.

Vor den Eingängen des Kaufhauses stehen meist obdachlose Straßenzeitungsverkäufer. Woanders hätte man sie längst der Tür verwiesen. Dennoch scheint es, als hätte sich das Unternehmen mit den sozialen Gegebenheiten vor Ort arrangiert – und umgekehrt: Die unbedachten Türsteher wissen ihren Stammplatz besetzt zu halten. Egal, wen von ihnen man fragt, die Antwort ist immer bizarr: „Hierher darf kein anderer. Sonst hol' ich sofort den Wachschützer!"

Einige Meter weiter, vor der großen Bahnhofshalle, werden noch andere Periodika verteilt, zum Beispiel der Wachturm. Beten statt betteln. Gleich daneben versucht eine Gruppe Teenager diverse Probeabos unter die Leute zu bringen. Ein Mädchen nimmt immer wieder Anlauf: „Haste mal einen Moment Zeit?" Ein Leseexemplar habe sie nicht, aber die Zeitung könne ja bald schon daheim zugestellt werden, „täglich, die erste Woche sogar kostenlos ..."

Bei schlechtem Wetter sucht man Zuflucht im Tunnel. Besonders die wenigen unterirdischen Meter der S-Bahntreppe zur U-Bahn bringen gewöhnlich einen guten Stich, sei es beim sogenannten Schmalemachen, dem Betteln durch direktes Ansprechen oder beim meditierenden Sitzunghalten. Wie überall stören dauernd private Wachdienste. Je nachdem, von wem die Blaumänner geschickt wurden, heißt es entweder ein paar Schritte vor- oder zurückzugehen. BVG und S-Bahn haben verschiedene Sicherheitsfirmen beauftragt, von denen jede in ihren Grenzen agiert, jedenfalls müßte sie es.

Warum aber sitzen die Obdachlosen dort und nicht auf dem Sozialamt oder wenigstens in einer der wenigen Kirchen, die im Winter ihre Wärmestuben geöffnet haben? Eher wird den ganzen Tag gebettelt, möchte man denken, unter dem strengen Auge des Gesetzes (oder der Bahnhofsordnung), als einmal „Danke" sagen zu müssen für Kaffee, Essen und Kleiderspende. ­ Ach wirklich? Für jugendliche Trebegänger könnte es ja eine wichtige Lebenserfahrung sein, mit 50-jährigen Schicksalsgenossen Stunden bei „Mensch ärgere dich nicht" zu verbringen. Am Gebot der Nüchternheit kann es auch nicht liegen. Erfahrene Betreuer wissen einen friedlichen Spiegeltrinker von einem exzessiven Alkoholiker zu unterscheiden. Was nun den „Hygieneschein" betrifft, der muß schon sein, denn arm darf man daherkommen, aber nicht verlaust! Auch soll es Wärmestuben geben, in denen Unbehauste sogar mit ihren Hunden Zutritt haben. Nachdem sie zuvor wie bei der polizeilichen Festnahme einen Adler gemacht haben ­ zwecks Kontrolle (die Zuwendung der Helfer schließt mitunter das körperliche Abtasten ein).

Eine Suppenküche oder Notübernachtung in nächster Nähe zum Alexanderplatz, etwa unter den S-Bahnbögen hätte mit Sicherheit Zulauf. Wenn auf dem Areal ohnehin niemand wohnt, könnte man wenigstens anständig Platte machen. Noch besser wären freilich Container, stabil gebaut mit Dusche, Waschmaschine, Betten und Schließfächern. Wichtig wäre ein Internetanschluß, nur für den Fall, daß jemand Arbeit sucht.

Solche Überlebensbojen für über Bord gegangene Großstadtbewohner fordert der französische Metropolenforscher Paul Virilio. Mit dem Wegfall der innereuropäischen Grenzen werde die Nichtseßhaftigkeit von einer bislang unbekannten Mobilität gezeichnet sein. Die Megazentren drohten in den nächsten Jahrzehnten zu explodieren. Mit dem modernen Sozialflüchtling kehre die Armut von den Rändern zurück in die Mitte der Städte. Einer solchen Zukunft sollen die von Virilio entworfenen „balises de survie" Rechnung tragen ­ ohne Finanzierung aus öffentlicher Hand, sondern durch Werbung an den Außenflächen.

Von derlei Visionen dürfte der Alexanderplatz Lichtjahre entfernt sein, ein Ort der Bewegung, nicht des Aufenthalts. Der Weg wird von keinen Boutiquen unterbrochen, keine Einkaufspassagen. So schließen sich auch kei-ne Ladenbesitzer zusammen und heuern wie am Ku'damm private Wachdienste an, weil sie sich von vermeintlichen Dealern in ihrem Umsatz bedroht fühlen. Niemand redet hier eine nicht vorhandene Kriminalität herbei. Natürlich sind Arme nicht per se „gute Menschen", auf dem Alexanderplatz sind sie ausgesprochen friedlich, fast möchte man sagen: rechtschaffend.

Der Alexanderplatz erscheint als Bettelbiotop, als Hort konzentrierter Gebefreudigkeit, ohne Spendenskandale, Lohnnebenkosten oder Verwaltungsapparat. Die Gelder kommen ohne Umwege den Bedürftigen zugute. Manchmal auch einer Drückerkolonne. Der Markt der Nächstenliebe reguliert sich jedoch mitunter selbst. Die Nischen sind verteilt, und nicht für jeden ist Platz. Eine Erfahrung, die ein Student machte, der vor Ort für die Rosenheimer PR-Agentur „Dialog Direct" jobbte. Bis zu acht Stunden am Tag sagte er den selben Text auf: „Stopp mal kurz. Schon mal von Menschen gegen Minen gehört?" Oder: „Hey, hast du eine Ahnung, wie teuer so 'ne Landmine ist?" ­ Das für immerhin 700 Mark die Woche, plus Prämie (abzüglich 280 Mark für Unterhalt). Aber bald schon habe ihn die Toilettenfrau bei „Burger King" per Handschlag begrüßt, die ewig gleiche Musik der Latino-Band habe ihm zum Hals rausgehangen, und immer wieder sei es zu Streitigkeiten mit den Punks am Brunnen gekommen. „Für die Schnorrer sind wir doch die Edelpenner, die das Geschäft verderben."

Karsten Krampitz

Vorabdruck aus: „Freiheit stirbt mit Sicherheit – Handbuch gegen Überwachung und Ausgrenzung", Hrsg.: JungdemokratInnen/Junge Linke, Karin Kramer Verlag, 14,90 DM. Buchpremiere Freitag, 29. Juni, 20 Uhr, Kaffee Burger, Torstraße 60

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