die besessenen
					Über die Begegnung zweier merkwürdiger Zeitgenossen im Weimarer Park & ihre höchst merkwürdige Unterhaltung samt effektvollem Schluß
					Eiei, welch sonderbarlich behütet Mensch sehen wir da durch des Geheimen Rates Vorgärtlein promenieren? Ja, dort unterhalb des prächtgen Schlosses von Jottweedee stolzieret einer mit dem schritt der Könige! Angetan mit einem Wams von tiefstem Schwarz, einem Hemmed gleichwohl derselben Farb & einer Zipfelmütz bar jeden Zipfels, oho! oho! ist das nicht der vortrefflich Dichtersmann & Reimling Luther? Jaja, er ists! Jetzt hält er ein in seinem majestätisch Gang & läßt sich: Uff! nieder auf einem verschattet Bänklein unter Linden. 
						
						& dort, gar wohl versehen mit flatternd gilben Pumphosen & keck bis zum Nabulus geöffnet Chemissettchen, stürmt über saftgen Wiesengrund heran ein rüstig Recke, dem die Augen silbrig blitzen. Wir wissens schon, das ist der hochgelahrte Musensohn & Meistersinger Willmann! Auch er scheint sehr bedürftig einer Ruhestatt unterm Blattwerk eines Baumes. Also hupfet er geschwind zur Bank, auf welcher sich der vielgerühmte J.W. Luther recht angenehm & füglich ausgebreitet, & spricht in wohlgesetzten Worten:
						- Guten Tag, mein Herr, ist der Platz neben Ihnen noch frei?
						- Aber natürlich
 ich lade Sie herzlich ein, sich neben mich zu setzen.
						- Vielen Dank.
						& F.R. Willmann, jener oft Besungne, setzt sich & beginnt mit seinem Nachbarn zu parlieren:
						- Was für ein schöner Tag!
						- Ja, ein sehr schöner Tag!
						- Ein außerordentlich schöner Tag!
						- Ein wirklich unübertrefflich schöner Tag!
						- Der wunderbare Duft der Gräser
 
						- Die köstliche Musik der im Wind raschelnden Blätter
						- Der erhabene Anblick des grandiosen Sonnenuntergangs
  
						- Das allumfassende Gefühl des Einsseins mit der Natur
						- Jaa
 
						Die beiden Herren schweigen andächtig, bis jener, der sich Willmann nennet, anhebt, aufs neu zu psalmodieren: 
						- Sie scheinen ein ebenso großer Liebhaber der Natur zu sein wie ich.
						- Das möchte ich wohl meinen! Meine schönsten Gedichte handeln von der Natur
						- Ach
 sie sind ein Dichtersmann!
						- Ja, mein Herr!
						- Ein Dichtersmann
 ich bin entzückt
 wirklich entzückt! Denn Sie werden es nicht glauben, auch ich bin ein der Literatur ergebner Diener
 Willmann ist mein Name
						- Aha, sehr schön
 ich heiße J.W. Luther. Hochpoet & Allesschreiber. Haben Sie schon von mir gehört?
						- Nein, & ich bedaure das aufs 
						höchste
 aber, sagen Sie
 Willmann
 diesen Namen kennen sie doch? F.R. Willmann, der Meister aller guten Worte?
						- Nein, wirklich nein
 aber lassen Sie uns doch unsere schmählichen Versäumnisse damit aus der Welt räumen, indem jeder eines seiner Gedichte vorträgt.
						- Das, mein Herr, ist eine Idee, die einem wahrhaft großen Geiste ziehmt. 
						- Nun denn, beginnen Sie
						- Es ehrt Sie, daß Sie mich zuerst zum Zuge kommen lassen wollen, jedoch der Vortritt gebührt dem, der diesen Vorschlag machte
						- Gut, seis drum. Ich möchte ein Naturgedicht zu Gehör bringen. Es heißt: es saß ein has im gras
						- Ah, schon um die Wahl des Titels muß man Sie beneiden! Ein ganz vorzüglicher Titel! Bravo!
						- Lieber Freund
 ich darf Sie doch Freund nennen?
						- Aber natürlich! Ich bin aufs höchste erfreut, von Ihnen Freund genannt zu werden, & ich gestatte mir, Sie nun gleichfalls Freund zu nennen
 mein Freund! 
						- Mein lieber Freund
 ich wollte 
						sagen, daß Sie mit den Beifallsbekundungen warten sollten, bis ich mein 
						Gedicht vorgetragen habe
						- Aber nicht doch, seien Sie doch nicht so bescheiden. Ich sage es noch einmal: ein ganz vorzüglicher Titel. Die Wahl des Titels ist nämlich ganz entscheidend für ein Gedicht. Ein Titel, verehrter Freund, ist an sich schon ein halbes Gedicht.
						- Wie recht Sie haben!
						- Ja, & ein Titel kann noch viel mehr sein, ein ganzer Roman, ein ganzes Leben, eine ganze Welt
 ein ganzes 
						Gedicht!
						- Ich hätte es nicht treffender sagen können. 
						- Wissen Sie, vor einiger Zeit beabsichtigte ich, einen Gedichtband zusammenzustellen, der nur aus Titeln 
						besteht
						- Eine Idee, die imstande ist, die Weltliteratur, ach was sage ich, die Weltgeschichte zu revolutionieren!
						- Der erste Titel dieser Sammlung sollte lauten: ich & mein ich.
						- Ich bin beeindruckt!
						- Das Problem aber selbst am besten 
						Titel ist, daß man meint, er könne doch noch besser sein
 so änderte ich den Titel in: mein ich & ich.
						- Ich bin ergriffen!
						- & später in: & mein ich ich. 
						- Ich bin überwältigt!
						- Dann in: ich mein ich &. 
						- Ich bin
 sprachlos.
						- Dann in: iche & in mich, in: chichi & 
						mine, in: ei chmi & nich, in: mch eh cin & i
 Schließlich gab ich es auf.
						- Ja, Schreiben ist ein ewiges Scheitern.
						- Der normale Sterbliche weiß so wenig, wieviel Herzblut, wieviel Leiden hinter einer einzigen guten Zeile steckt.
						- O Dichtkunst, welch schmerzliches Geschenk bist du!
						- Sie sprechen mir aus tiefster Seele.
						- Wir Dichter müssen die Leiden der gesamten Menschheit auf uns nehmen, denn nur so sind wir befähigt, unserer Berufung gerecht zu werden, als Mahner & Künder, als diejenigen, die am Weltgewissen rühren.
						- Manchmal bin ich selbst erstaunt, wie leidensfähig ich doch bin
						- Jaja.
						- Aber nun, mein Freund, möchte ich doch gern dem Vortrag Ihres Gedichts mit dem wundervollen Titel lauschen.
						- Nun gut
 mein Gedicht lautet: sassafraß
						- Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen
 ein exzellenter Titel! Ein fänomenaler Titel! Ein Titel, wie ein Titel sein muß: sassafraß. Dieser Titel ist eine Offenbarung. sassafraß
 gleich dreimal a
 A! Welch göttlicher Buchstabe! A! Der Anfang allen Alfabets! Der Urschrei des menschlichen Geschlechts! AAA!
						- Ja
						- & dreimal s! Dreimal a. Dreimal s. Niegehörte Ausgewogenheit einer genialen Wortschöpfung
 Dreimal a. Dreimal s. Vervollkommnet durch ein &Mac223;üsterndes f & ein rollendes r. & zum Schluß die Vollendung, die Krönung
dieser einzigartige Buchstabe ß! Der Buchstabe, den es nur im deutschen Alfabet gibt. ß
 beredtester Ausdruck deutschen Geistes
 In diesem Buchstaben hat er seinen Kulminationspunkt erreicht. 
						- Da haben Sie völlig recht
 Mich hat das ß schon immer wegen seines Aussehens fasziniert
 sehen Sie seine unvergleichliche Form
 eine kühn nach oben schnellende Gerade, an die sich ein sanft herniedergleitender Mäander schmiegt
 Das ß ist die wahrhaft gelungenste Verschmelzung zweier einander ergänzender Prinzipien. & diese Verschmelzung gelingt in einem einzigen Buchstaben
 Da ist einerseits das Harte, Spitze, das Aufstrebende & andererseits das Weiche, Runde, das Niedersinkende. & beides verschlungen zum ß
apollinisches Prinzip & dionysisches Prinzip. Verstand & Gefühl. Himmel & Erde. Mann & Frau. Jing & Jang. Dies & das. 
						- Wenn ich ein Maler wäre, ich würde meine Kunst einzig dieser Form widmen
 einzig dem ß. Leinwand um Leinwand würde ich mit ßs bemalen. Denn das ß ist die zum Buchstaben geronnene Welt!
						- Das ist wohlgesprochen. & ich möchte hinzufügen, daß das ß auf wohl sinnbildlichste Weise das Verlangen der Menschheit zum Ausdruck bringt, daß zusammenwächst, was zusammengehört
						- Da gebe ich ihnen völlig recht
 aber nun möchte ich doch gern ihr Gedicht hören. 
						- Natürlich
 also
 ja
						- Was ist, mein Freund? 
						- Sehen Sie, wenn ich schreibe, tue ich es aus tiefster Seele
						- Ich hätte nichts anderes von Ihnen 
						erwartet.
						- Ich halte beim Dichten sozusagen Gericht über mein eigenes Ich
						- Da geht es Ihnen so wie mir
 & ich halte nicht nur Gericht über mein eigenes Ich, sondern ich halte auch Gericht 
						über mein anderes Ich
 & auch über 
						alle weiteren, die gerade anwesend sind
						- Sie sagen es so, wie auch ich es 
						gesagt hätte
						- Wie sehr diese Worte sich ähneln: Dichter & Richter
 & wie sehr sich die Tätigkeit des Dichters und des Richters gleichen
 Berufene, die für die Gerechtigkeit streiten!
						- & sie haben beide nur allzu oft unter dem Unverständnis ihrer Mitmenschen zu leiden.  
						- Nun, auf ein solches Unverständnis werden Sie bei mir gewiß nicht stoßen
 wohlan
 tragen Sie ihr 
						Gedicht vor! 
						- Der Titel des Gedichts ist
						- Ich bin aufs äußerste gespannt!
						- was?
						- Welch ein Titel! Er ist einem Weltwunder vergleichbar. Alles liegt in ihm: 
						naive Verwunderung, wißbegierige Neugier, unendliche Tragik, aufkeimende Hoffnung, absolute Taubheit. Alles ist möglich, nichts ist möglich. WAS? Ein Universum
						- Als ich kürzlich einen Roman verfaßte, war ich nahe daran, diesen Titel noch ein zweites Mal zu verwenden. Ich fand jedoch schließlich einen besseren, treffenderen für mein Werk, nämlich: über dem kaukasus lag dein blauer
						- Was?
						- Nein, nicht: was, sondern: über dem kaukasus lag dein blauer
						- Das ist völlig unmöglich!
						- Was
 wieso?
						- Ich habe einen Roman verfaßt mit ebendiesem Titel
						- Das kann nicht sein!
						- Doch!
						- Niemals!
						- Oh doch, & ich habe den Verdacht, Sie haben den Titel bei mir gestohlen!
						- Lächerlich! Ich kenne weder Sie noch irgendeinen Text von Ihnen
 können Sie überhaupt beweisen, daß Sie ein Dichter sind?!
						- Frechheit! Was erdreisten Sie sich?! Sie Plagiator!
						- Sie Scheinpoet! 
						- Wortverdreher! Hilfsschreibkraft!
						- Semiliterat! Tippbruder!
						- Papierbeschmutzer! 
						- Silbenschnitzer! 
						- Versabwickler!
						- Bleistiftspitzer!
						- Bücherschänder!
						- Hobbyquasling!
						- Stotterkasper!
						- Kitschverwalter!
						- Sprachvergurker!
						- Schundreimling!
						- Buchstabenkacker!
						- Hermann Kant!
						- Sie
 Sie
 Lutz Rathenow
						
						& die zwei wortgewaltgen Recken sprangen auf & erhoben voll des Zorns die Fäuste & schlugen RUMMSS!! & nochmal RUMMSS!! einander auf die Nasen. Hehres Dichterblut spritzte fort nach allen Seiten. & nochmal RUMMMSSSS! Die beiden Streiter sanken hin zum Boden, einträchtig vereint in einer allumnachtend Ohnmacht...
					Frank Willmann & Jörn Luther