Ausgabe 03 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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"In Berlin werden Flüchtlinge obdachlos und ausgehungert"

Ein Interview mit Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat

scheinschlag: Das Asylbewerberleistungsgesetz steht seit Jahren in der Kritik von Antirassismus- und Flüchtlingsgruppen. Was wird in dem Gesetz geregelt?

Georg Classen: Das Gesetz ist Bestandteil des „Asylkompromisses“ von 1993. Es galt zunächst nur für Asylbewerber im ersten Jahr. Mittlerweile gilt es für die ersten drei Jahre, zudem auch für geduldete Flüchtlinge, für diese vielfach sogar unbefristet. Es bedeutet eine ca. 25-prozentige Kürzung der Sozialhilfe. Diese Sozialhilfe wird allerdings bis auf einen Betrag von 80 Mark pro Monat statt in bar vorrangig in Form von Sachleistungen wie Gutscheinen, Lebensmittel- und Hygienepaketen und Kleiderkammern gewährt. Außerdem soll die Unterkunft statt in Wohnungen vorrangig in Gemeinschaftsunterkünften erfolgen, auch die medizinische Versorgung wird stark eingeschränkt. In der Praxis kann die Kürzung der Sozialhilfe weit mehr als 25 Prozent betragen, weil die Leute nur in teuren Geschäften einkaufen können, es bei den Gutscheinen keine Restgeldrückgabe gibt und die Lebensmittelpakete regelmäßig nur ca. 60 Prozent des Sollwertes enthalten und zudem nicht bedarfsdeckend zusammengestellt sind. In Berlin gibt es Chipkarten, die nur ganz wenige Geschäfte akzeptieren, so dass für die Flüchtlinge erhebliche Fahrtkosten zum Einkaufen entstehen. Mittlerweile wurde das Gesetz zweimal verschärft. 1997 wurde die Dauer der Einschränkungen von einem auf drei Jahre erhöht. Die zweite gravierende Verschärfung erfolgte 1998. Danach wird Flüchtlingen, die durch ihr eigenes Verhalten nicht abgeschoben werden können, weil sie z.B. angeblich ihre Dokumente vernichtet haben, oder die angeblich nur wegen der Sozialhilfe nach Deutschland gekommen sind, die Sozialleistungen auf ein absolutes Minimum reduziert.

Wie wirken sich diese Bestimmungen in der Praxis aus?
In Berlin haben Flüchtlinge der zuletzt genannten Kategorien nur noch Anspruch auf ein Rückfahrtticket in ihr Herkunftsland. Sie erhalten kein Taschengeld, keine Unterkunft, kein Essen, keine medizinische Versorgung mehr! Von den ca. 30000 Leistungsberechtigten in Berlin sind seit September 1998 nach unserer Einschätzung ca. 5000 Personen, deren Leistungen ganz eingestellt wurden, von dieser Politik des obdachlos Aussetzens und Aushungerns betroffen. Ca. 5000 weitere erhalten lediglich medizinische Versorgung, Unterkunft und Verpflegung, aber keinerlei Taschengeld. Sie werden dadurch beispielsweise zum „Schwarzfahren“ genötigt. Mit Hilfe des Vorwurfs, nur wegen der Sozialhilfe nach Deutschland gekommen zu sein, wird in Berlin – bei gleichzeitigem Arbeitsverbot – vor allem Kriegsflüchtlingen aus dem Kosovo und aus Bosnien, serbischen Deserteuren, Roma und anderen ethnischen Minderheiten aus allen Teilen Jugoslawiens sowie Palästinensern aus dem Libanon jegliche Sozialhilfe verweigert.

In Berlin wird die Auslegung des Gesetzes von den Bezirken geregelt. Gibt es da Unterschiede je nach parteipolitischer Couleur?
In den Berliner Bezirken gehören die für diese Fragen zuständigen Sozialdezernenten sämtlichen Parteien von CDU bis PDS an. Positive Erfahrungen haben die Flüchtlinge mit der SPD-Sozialdezernentin in Kreuzberg gemacht. Demgegenüber haben sich die Sozialdezernenten von Reinickendorf, Frank Balzer (CDU) und von Mitte, Hans Nisblé (SPD) als Scharfmacher gegen die Flüchtlinge betätigt. Und die grüne Sozialdezernentin aus Charlottenburg hat albanischen Flüchtlingen aus dem Kosovo, deren Angehörige im Krieg von Serben ermordet wurden, das Taschengeld gestrichen, um sie zur Besorgung von Pässen bei der jugoslawischen Botschaft zu zwingen. Die PDS-Sozialdezernentinnen aus Lichtenberg und Treptow sind uns in der Vergangenheit durch besonders rigide Praktiken gegenüber Flüchtlingen aufgefallen. In Treptow wurden Kosovo-Flüchtlinge zum Teil als Touristen bezeichnet, zur Ausreise aufgefordert und die Leistungen vollständig verweigert. Äußerst positiv ist demgegenüber das Engagement von Karin Hopfmann zu bewerten, die für die PDS im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Die von der Partei finanzierte Einrichtung einer Flüchtlingsberatungsstelle in Kreuzberg ist ebenfalls ein sehr positiver Schritt.

Im Berliner Abgeordnetenhaus gab es im letzten Jahr eine parteiübergreifende Initiative, die die Rechte der Flüchtlinge verbessern sollen. Was ist daraus geworden?
Mit den Stimmen von SPD, Grünen und PDS hatte das Abgeordnetenhaus im Juli 2000 beschlossen, dass in jedem Fall zumindest Unterkunft, Ernährung, medizinische Versorgung sowie notwendige Fahrten mit der BVG zu übernehmen sind. Zudem soll das Sozialamt beweisen, dass ein Flüchtling wegen der Sozialhilfe eingereist sei. Bisher musste der Flüchtling das Gegenteil beweisen. Erst seit März 2001 existiert eine Verwaltungsvorschrift der verantwortlichen SPD-Senatorin Schöttler zur Umsetzung dieser Initiative. Sie gilt allerdings nur für Flüchtlinge, die vor dem 1.1.2001 eingereist sind. Neu Einreisende sollen auch weiterhin ausgehungert und obdachlos ausgesetzt werden dürfen.

Interview: Peter Nowak

Das Kiezplenum Prenzlauer Berg will demnächst praktische Solidarität mit den vom Asylbewerberleistungsgesetz betroffenen Flüchtlingen leisten, indem ihnen Gutscheine und Chipkarten abgekauft werden, damit diese Menschen an Bargeld kommen. Kontakt: Kiezplenum, c/o Buchladen N.N., Kastanienallee 85, 10435 Berlin

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