Ausgabe 03 - 2001 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Fasten?

Immer der Jüngste zu sein, das ist schlimm. Aber wenn die älteren Geschwister plötzlich verrückt werden, maßlos und pervers, dann ist es die Hölle.

Freitags aß man kein Fleisch, das war klar, höchstens Fisch. Oder Maultaschen, eine raffinierte Erfindung, die es gestattete, wenigstens Hackfleisch zu essen, ohne dass der liebe Gott es sehen konnte.

Es war kein gewöhnlicher Freitag. Es war Karfreitag, ein windiger, regnerischer Karfreitag, und unsere Mutter war zur Kirche gegangen, zum Friedhof, anschließend Verwandte besuchen. Was man an Feiertagen eben so machte. Ich hatte Fieber und durfte nicht mit zur Kirche, und Bruder und Schwester mussten nicht mehr mit, seit sie die Firmung hinter sich hatten und im Handelsverkehr mit dem Teufel als voll geschäftsfähig galten. Wir sahen den ganzen Nachmittag fern, ich lag auf der Couch, und mein Bruder trommelte sanft und geistesabwesend mit seinen Fäusten auf meinem Kopf, wie er es immer machte. Gemütlich. Im Fernsehen kicherte ein irrer Mann mit einem hässlichen Fusselbart, er zupfte an den Saiten einer Harfe und besang die Schönheit des brennenden Rom. Mein Bruder sagte: "Was gibt’s denn heute zum Abendbrot."

Die Schwester und er sahen sich an, vielleicht einen Sekundenbruchteil zu lang. Ein kurzes Zucken mit den Lidern, und die Schwester sprang auf, der Bruder sprang auf, sie rannte zum Kühlschrank, er rannte zum Fenster, die Rollläden knallten nach unten, er rannte aus der Zimmertür, alle Rollläden knallten, hier unten und oben in den Schlafzimmern, und wo keine Rollläden waren, da surrten die Vorhänge. Er verriegelte die Kellertür, nahm drei Stufen auf einmal nach oben, steckte den Schlüssel ins Haustürschloss, drehte ihn zweimal herum und ließ ihn von innen stecken. Wir waren im Innern der Maultasche.

Es war stockdunkel. Die Schwester knipste das elektrische Licht an. Mitten auf dem Esstisch leuchtete die Wurstdose. Milchig weißes Tupperware, randvoll mit Aufschnitt. Der Bruder trat langsam, breitbeinig, auf die Dose zu. Zog den Deckel hoch. Langte mit bloßen Fingern hinein. Zog eine Scheibe Lyoner heraus, warf den Kopf in den Nacken und ließ die Wurst bedächtig in den Mund gleiten. Kaute. Schluckte. Sagte: "Aaaah." Die Schwester fingerte nach einer Scheibe Salami, schob sie in den Mund, noch eine Scheibe und noch eine, stopfte das rotbraune Zeug zwischen die Lippen und würgte es halb unzerkaut hinunter. Draußen rüttelte der Aprilsturm an den Rollläden.

Der Bruder griff jetzt mit beiden Händen in die Wurstdose, zerrte wahllos den Aufschnitt heraus, legte sich die Scheiben aufs Gesicht, dann spielte er mit den Handkanten Planierraupe, schob die Scheiben zusammen und versenkte sie in der Gesichtsgrube. Die Schwester presste eine Mettwurst aus, eine lange Linie aus rosa Brei, und wischte sie mit der Zunge wieder von der Tischplatte.

Sie nahmen die Schnitzel aus dem Kühlschrank und brieten sie kurz an. Sie zögerten einen Moment, bevor sie das Fleisch mit Bierschinken belegten. Schnelles Beißen, trockenes Schlukken. Ihre Ekstase ließ nach. Die Wurstdose war leer. Die ganze Küche roch nach gebratenem Fleisch.

Es klingelte an der Haustür. Noch einmal. Der Bruder saß da, Fettschlieren um den Mund, die Augen aufgerissen vor Entsetzen. Die Schwester lief nach ihrem Parfum und nebelte die Küche damit ein. Es klingelte Sturm. Klopfte. Rüttelte an der Tür. Der liebe Gott wollte sehen, was in dieser Maultasche vor sich ging.

Als die Mutter in die Küche trat, sagte sie nichts. Es stank nach Bratenfett und Patschouli. Sie ging zum Kühlschrank. Man schwieg. Dann sagte der Bruder: "Wie war’s in der Kirche?" Mutter: "In der Kirche?" Bruder: "Du warst doch in der Kirche." Mutter: "Ach was, nein. Schon lange nicht mehr." Sie holte ein paar Rostbratwürstchen aus dem Eisfach und warf sie in die Pfanne.

Bov Bjerg

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