Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Utopie und Verlust

Würdiges Ende der Veranstaltungsreihe Sklavenmarkt: Eine Anthologie

Irgendwann im Sommer 1996 haben mich meine damaligen Nachbarn überredet, meine angestammten Friedrichshainer Gefilde einmal zu verlassen und mich bei einer „Sklavenmarkt"-Veranstaltung in einer Baracke des Pratergartens davon zu überzeugen, dass es sogar im Prenzlauer Berg noch so etwas wie subversive Kultur jenseits orange angemalter Kollwitzplatz-Kneipen gibt. In provisorischer Atmosphäre auf Holzbänken und bei vertretbaren Bierpreisen wohnte ich einem direkt überzeugenden Dia-Vortrag mit Musikeinlagen bei, der sich später als die Gründungsveranstaltung der Glücklichen Arbeitslosen herausstellte.

Guillaume Paoli, einer der damaligen Darbietenden sowie scheinschlag-Redakteurin Anne Hahn haben als langjährige Mitorganisatoren des Sklavenmarktes Autoren, Stammgäste und Quereinsteiger aufgefordert, gemeinsam ein Buch zu verfassen, um die Veranstaltungsreihe würdig zu beenden. Herausgekommen ist ein 115 Seiten starkes Werk mit dem Titel „Utopie und Verlust ­ Zum Werden und Vergehen einer Veranstaltungsreihe im Unterleib Berlins", das insgesamt 27 Autoren, Zeichnern und Fotografen ein Forum bietet.

Die versammelten Bilder, Gedichte, Essays und Prosastücke stehen auf den ersten Blick etwas unvermittelt nebeneinander, was dem Buch aber keineswegs schadet, sondern eher die Vielseitigkeit des Sklavenmarktes zum Ausdruck bringt. Initiiert wurde die Reihe ursprünglich, um der inzwischen eingeschläferten Zeitschrift „Sklaven" eine weitere Plattform hinzuzufügen, wobei sich beides gegenseitig befruchten sollte. Von den Redakteuren des Sklaven sowie dessen Nachfolgeprojektes „Sklavenaufstand" sind mit Annett Gröschner, Renate Koßmann und Bert Papenfuß immerhin noch drei an dem Buch beteiligt. Tatsächlich hatte sich der Sklavenmarkt recht früh verselbstständigt, seine Unabhängigkeit gegenüber den beiden Zeitschriften auch behauptet und eine Art Sklavenmarkt-Gemeinde herausgebildet. Eine gute Idee der beiden Herausgeber war es deshalb, auch die Stammgäste nach einem Beitrag zu fragen.

Neben Autorenlesungen schälte sich als zweiter Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe die Aufführung von Dokumentarfilmen heraus. Derartiges kann in einem Buch naturgemäß nur am Rande eine Rolle spielen. Torsten Schulz' anekdotenhafte Erzählung über die Entstehungsgeschichte seines Films „Kuba Sigrid", ein Porträt einer Frau, die einen Kubaner heiratete, um der Enge der DDR-Gesellschaft zu entfliehen, mit ihm nach Kuba zog und dort heute in Armut lebt, schließt diese Lücke und ist dabei sogar fast so lebendig wie der Film selber.

Ein schönes Buch ist es geworden und ein Zeitdokument über eine der interessantesten Veranstaltungsreihen im Berlin der 90er ohnehin. Am 28.Dezember diesen Jahres, wird das Buch mit einer Massenlesung, ab 21 Uhr im Walden, in der Choriner Straße 35, im Rahmen des letzten Sklavenmarktes, vorgestellt und anschließend das endgültige Ende der Sklaverei feierlich begangen.

Dirk Rudolph

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  Ausgabe 12 - 2000