Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
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Von einem, der auszog

Wie Torsten Schulz zum Dokumentarfilm kam

„Als ich zu meinem Geliebten nach Holland zog, lernte ich zum ersten Mal eine Familie kennen, lernte, was es heißt, Gefühle zu haben und zu zeigen", sagt eine drallbrüstige Schöne mit angeknitterten Gesichtszügen. Schnitt. „Die hat da bei den Reichen gelebt, nicht wahr, Porsche fahren und so, aber der alten Mutter mal nen Hunderter rüberschieben war nich, hat se nich gemacht." Diese Szene spielt sich in Torsten Schulzes jüngstem Dokumentarfilm ab. „Von einer, die auszog" handelt von einer Frau, die heute in einem Striplokal in Los Angeles kellnert und dort vom Regisseur Schulz entdeckt wurde.

Torsten Schulz ist ein unauffälliger Mensch. Nur sein geschärfter Blick verrät Fanatismus. Das spartanische Wohnzimmer verheimlicht seine Profession. Keine Sammelobjekte, nichts zeugt von den fernen Ländern, die er bereist hat, und das helle Holz der Böden und Möbel wirkt neutral, fast unbewohnt. Torsten Schulz wurde 1959 in Berlin Friedrichshain geboren. Seine Biografie weist wenig Brüche auf. Armee, 1982 bis 86 Studium der Film- und Fernsehwissenschaft in Potsdam Babelsberg. „Sie haben Autoren gesucht, und ich war nicht gefährlich. Ich war auch nicht wahnsinnig angepasst, aber kritisch." Nach dem Studium arbeitete Torsten Schulz als Dramaturg in den DEFA- Spielfilmstudios. „Das war eine Falle; man wurde hingehalten." Fünf Jahre auf sein Debüt warten, war normal. Als die Mauer fiel, war Schulz 29 Jahre alt. Bei der DEFA hat er Stoffe betreut, ein Rockmusikszenarium geschrieben, Treatments verfasst. „Man wurde dafür bezahlt, aber dann war Schluss, gegen Drehbuch ging's nicht weiter." Wichtige Arbeitsfreundschaften entstanden zu jener Zeit, viele Kontakte zu Kollegen halten bis heute, „man hat ähnliche Nöte".

1991 wurde Torsten Schulz freischaffend. Jetzt schreibt er Drehbücher, Einzelstücke, ein verkauftes Drehbuch pro Jahr reicht. „Der Autor ist Bestandteil der Industrie", bekennt Schulz. Für ein Debütprojekt des NDR schrieb er sein erstes Drehbuch. Es war der Film Hitzeschock. „Die suchten einen Ostautor ­ die Geschichte spielte an einem Abend in einer mecklenburgischen Disko, wurde mit Laiendarstellern gemacht, alles low budget". Für den NDR arbeitete er weiter, schrieb die Drehbücher für die Lebensgeschichte des Manfred Ibrahim Böhme, für die Politkomödie Dicke Freunde (über F.J. Strauß und Schalck- Golodkowski) und für Andreas Dresens Raus aus der Haut. „Der Zustand des Fernsehens ist so miserabel, dass ich nach Jahrestagen schaue, zum Beispiel ist 2001 der Jahrestag des Mauerbaus, jetzt habe ich einen Auftrag der ARD (MDR) dafür." Schulz hat derzeit 5 oder 6 gute Exposees „unterwegs, wo gar nichts passiert". Wenn die Ablehnungen kommen, klingen sie mysteriös wie: Stoff ist zu düster, zu kompliziert für Primetime.

Weg vom Schreibtisch, nah an die Realität

Dokumentarfilmen bedeutet Torsten Schulz die Flucht vom Schreibtisch ­ „Ich hatte keine sozialen Kontakte mehr". Also machte er Reisen, lernte Menschen kennen und versuchte sich als Regisseur. „Alles von vorn bis hinten alleine machen, war mir neu." 1992 machte er eine Reportage in Moçambique, 1995 drehte er in Havanna Kuba Sigrid. Dieser Film entstand eher zufällig, ursprünglich wollte Schulz Kubaner filmen, die aus der DDR zurück nach Kuba gekommen waren, doch daraus wurde nichts. Er stieß auf Sigrid, die 1979 aus Ostberlin nach Kuba übergesiedelt war. Sigrid lebte mit ihrem Ehemann, ihrem Sohn und ihrem Geliebten in einer ärmlichen Hütte am Rande Havannas.

Erschütternd direkt wird das Universum der Sigrid abgebildet, die tüchtig dem Rum zuspricht und mit urwüchsiger Berliner Schnauze über ihren verkrüppelten Mann Juan lästert, ihrem Geliebten Zärtlichkeiten abfordert und mit dem halbwüchsigen Sohn um Dollarnoten feilscht. Schulz stellt Sigrid als eine starke Frau mit ihren „Satelliten"-Männern dar, eine Art Minimatriarchat.

1996 entstand der Dokumentarfilm Das Mädchen Liane, der die Schauspielerin Marion Michael porträtierte. Sie war der erste nackte Jugendstar der BRD und führte ein abenteuerliches Leben, bis sie in die DDR übersiedelte. Von einer, die auszog ist der dritte und letzte Dokumentarfilm in der Frauenporträtreihe Schulzes. Er erzählt die Geschichte einer gebürtigen Polin, die als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam, sich in einen reichen niederländischen Dealer verliebte und mit ihm nach Holland zog. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Los Angeles, schlägt sich als Kellnerin in einer Striptease-Bar durch. Ihre Lebensansichten schnitt Schulze gegen die wenig geistreichen der in Norddeutschland verbliebenen Mutter. Auch die in L.A. aufgewachsene Tochter kommt zu Wort. Die harten Schnittwechsel der Statements geraten zum Stakkato einer Hass-Liebe und den Un-Möglichkeiten der Lebensbewältigung. Schulzes Film über die drei Frauen einer Familie besticht durch intensives „Dabeisein", das schwer erarbeitet wurde.

Ein großes Vorbild für Schulz ist Werner Herzog, er schwärmt von der zupackenden Art und Weise Herzogs. Das ist für ihn wichtig, er mag die Dokumentarfilme nicht, die allzu beobachtend, zu unverbindlich sind. Und er mag Dokumentationen im Fernsehen überhaupt nicht, die nicht mehr sind, als bebilderte Kommentare. Schulz ereifert sich, denn hier ist er beim Wesentlichen angelangt: „Der Dokumentarfilm wird immer enger, es gibt weniger Förderung, das Fernsehen ist immer weniger interessiert!" Im Gegenzug gerät die anarchische Entwicklung durch perfekte technische Möglichkeiten wie Ton und Kamera immer besser. Man kann drehen, jeder kann drehen! Bisher war der Schnitt am teuersten, jetzt ermöglicht die rasante technische Entwicklung den Kauf einer Kleinausgabe des Avid. Viele Kollegen schneiden bereits selbst zu Hause.

Realität als Seifenoper

Die vielbeschworene „Realitätsnähe", die das Fernsehen durch „Doku-Soap" oder Big Brother vermitteln will, mündet bei Torsten Schulz in der Erkenntnis: „die These Andy Warhols, jeder kann ein Star sein, wenn auch nur für einen Tag, wird im Fernsehen auf triste und banale Weise verwirklicht." Der Serieneffekt zielt seiner Meinung nach auf einsame Menschen, die eine Ersatzfamilie darin suchen.

Er bevorzuge die Haltung von Robert Koch, meint Schulz, „der hat die Tuberkelbazillen auch nicht gemocht ­ und sich trotzdem damit beschäftigt."

Voyeurismus ist dem Menschen eigen, darum schaut er sich Filme an. Dokfilme werden nach Schulz in der Öffentlichkeit beachtet, aber Protagonisten- oder themenorientiert, es wird kein Augenmerk auf die Struktur gelegt. Dokumentarfilme sind Kunstwerke und sollten als solche wahrgenommen werden!

Torsten Schulz versucht, diesem Blick auf den Dokumentarfilm möglichst gerecht zu werden. Er veranstaltet im Wintersemester (noch bis Februar 2001) Themenabende unter dem Titel „Werkstatt Dokfilm" an der Humboldt Universität. Er geht dabei der Frage nach, was die Kunstgattung Dokumentarfilm bedeutet und beinhaltet und unter welchen Voraussetzungen ihre Rezeption erfolgt. Am jeweils vierten Mittwoch eines Monats (außer im Dezember) werden folgende Themengruppen erarbeitet: Doku-Soap, das Real-Live-Event und Dokumentation/Dokumentarspiel. Die Studenten werden nach einigen minutenlangen Ausschnitten zu den Themen referieren. Auch Künstler der Genres werden zugegen sein und sich der offenen Auseinandersetzung und dem Austausch stellen.

Wie weiter?

Was wird Torsten Schulz als nächstes in Angriff nehmen? „Jetzt beginnen die Männerprojekte", sagt er und deutet an, dass sein zukünftiger Porträtierter in China als kultureller Kontaktvermittler arbeitet und nach '68 dorthin auswanderte, als seine linken Kameraden gerade die Institutionen in Deutschland erstürmten.

Er wird immer gleichzeitig Drehbuchautor und Dokumentarfilmer sein, damit auch weiterhin abhängig von Geldgebern und Produzenten. Schulz wünschte sich, dass die Produzenten besser Drehbücher lesen könnten, das sei selten der Fall in der Branche. Vom Fernsehen hörte er schon mal die Kritik, „in der Mitte stimmt was nicht." Er würde bei seinen Studenten an der Humboldt-Uni vorsichtiger argumentieren, z.B. „Sie haben Ihre Hauptfigur aus den Augen verloren."

Nach der Wende ist Schulz viel gereist, er war in Argentinien, Moçambique, Uruguay und den USA. In den USA verbrachte er auch eine Zeit in der Feuchtwangervilla Aurora. Aber arbeiten würde er dort nicht wollen. Die Regisseure Emmerich und Petersen sind für ihn Jahrmarktkünstler, die die patriotische Drecksarbeit für Amerika erledigen. Da spürt er lieber einen alten Maoisten in China auf, um ihm mit der Kamera nahe zu kommen.

Anne Hahn

24.1. 2001 WERKSTATT DOKFILM, Real-Live-Event/ Exhibitionisten, Voyeure und Andy Warhols These von den Fünf-Minuten-Stars (Diskussionsbeispiele aus Big Brother, Inselduell und Expedition Robinson) Studiobühne, Sophienstraße 22a, 19 Uhr, Eintritt frei

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