Ausgabe 12 - 2000 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Anarchie und Marktwirtschaft

Ein Film über den Mehringhof mit einem ernüchternden Resümee

Die beiden Rentnerinnen sind enttäuscht. „Eigentlich haben wir erwartet, dass es Kaffee und Kuchen gratis gibt. Aber der Berthold, der ist ja auch nicht mehr da." Tatsächlich befindet sich schon seit 1979 auf dem Gelände der Schriftgießerei Berthold AG der Mehringhof und die Seniorinnen sind am Hausfest zum 20-jährigen Jubiläum wohl die einzigen Zeitzeuginnen.

Doch auch das jahrelang als Hochburg der Autonomen respektierte oder gefürchtete Kreuzberger Initiativenhaus ist in die Sinnkrise gekommen. Unter dem Titel „Mehr Hof machen ­ der Mehringhof" haben drei junge Filmemacher diese Stimmung jetzt in einen einstündigen Film eingefangen.

Die heroischen Straßenschlachten sind in Form von Plakaten oder Parolen an den Wänden festgehalten. In der Gegenwart aber überwiegt der Kampf ums Überleben. Oder war es nicht vielleicht immer so? Ein Mitglied des Fahrradladens im Mehringhof zumindest meinte ganz trocken, „Anarchie und freie Marktwirtschaft" wäre vor 20 Jahren die Parole gewesen. Arno von der Grafikwerkstatt „graph druckula" kann nur noch mit Ironie zurückblicken: Ein Museum der verschwindenden Berliner Linken sei das Zentrum heute. Man solle Führungen durch das Haus machen und den Besuchern die Steine von legendären Straßenschlachten zeigen. Horst von „Stattbuch e.V." nennt die damaligen Kollektivvorstellungen im Nachhinein gar menschenverachtend. Doch bei aller Ernüchterung, niemand will den Mehringhof verlassen.

Ob allerdings noch ein Stück Restutopie oder bloß der gute Standort der Grund ist, bleibt offen. Überhaupt enthält sich das Filmteam jeden Kommentars. Der Schnitt in ein Punkkonzert im Ex ist einer der wenigen Momente, in denen Aktivitäten der jüngeren Generation vorgestellt werden. Die Zuschauer müssten sonst annehmen, dass hier die Alternativbewegung vor sich hinaltert. Marie von der Schule für Erwachsenenbildung bringt es auf den Punkt: „Wir gehen zur Party nach Friedrichshain, während sich die ältere Generation für 20 Mark im Mehringhoftheater vergnügt."

Eine Großrazzia nach vermeintlichen Mitgliedern der Revolutionären Zellen platzte mitten in die Dreharbeiten. Axel, einer der Hausmeister des Zentrums und zentraler Interviewpartner im Film, sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Da werden Bilder längst vergangener Kämpfe wieder Realität. Doch niemand macht sich Illusionen, dass dadurch eine neue Politisierung einsetzt. Droht also aus dem einstigen Alternativzentrum ein Rentnerpark zu werden, wie eine Aktivistin witzelte?

Ein Abgesang auf den Mehringhof ist der Film bestimmt nicht. Doch liefert er einen Rückblick auf 20 Jahre Alternativbewegung ohne Verklärung und Pathos.

Peter Nowak

Der Film wird am 17.12., 19 Uhr im Kommuneladen, Brunnenstraße 183 und am 19.12., 21 Uhr im Ex gezeigt.

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