Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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Denn nichts endet je
Imre Kertész' Gesamtwerk nun bei Rowohlt

Ach, wissen sie: vor 50 Jahren hat man mich hierhergebracht, man hat mich geschlagen und getreten. jetzt komme ich wieder hierher, ich lese den Menschen aus meinem Buch vor, und man hört mir freundlich zu, man applaudiert, die Welt ist absurd, einfach nur absurd.
Imre Kertész

"Ich glaube", so Günther Anders 1985 in einem Gespräch mit Fritz J. Raddatz, "daß der sogenannte Ernst der Kunst, verglichen mit dem Ernst dessen, was passiert ist, und was droht, reine Verspieltheit ist. Es gibt Ereignisse von solcher Größe, daß sie von der Kunst nicht erreicht werden können. Nichts Unangemesseneres als das Schönbergsche Musikstück ein Überlebende aus Warschau (...)" Schönberg habe "das Unerlaubte" getan, schändlich sei der "Wiedergutmachungsapplaus", notiert Anders in seinen Ketzereien. Nun war Arnold Schönberg zweifellos ein Künstler von unbezweifelbarer Integrität, Abgründe trennen ihn von einem Scharlatan wie Steven Spielberg, der keine Skrupel mehr kennt, den nationalsozialistischen Judenmord der Unterhaltungsindustrie einzuverleiben und im Hollywood-Studio KZ zu spielen. Derzeit, liest man, feiert Spielberg weltweit Parties, um Geld für sein Video-Dokumentationsprojekt locker zu machen, schneidet dabei gerne Torten an, auf denen groß "Shoah", der urheberrechtlich geschützte Markenname seiner Unternehmung, geschrieben steht. Das ist der Stand der Dinge mehr als 50 Jahre nach Kriegsende. Eine jüngere Generation, zumal in Deutschland, kennt keine Scham mehr, sich noch auf die letzte Themen-Marktlücke rund um den Holocaust zu stürzen, noch den letzten Zeitzeugen kurz vor seinem Ableben vor ein Mikrophon oder eine Kamera zu zerren, all das in Büchern und Dokumentarfilmen zu verwursten.

Wenn Imre Kertész, der1929 geborene ungarische Jude, der 1944 nach Auschwitz deportiert wurde und das Glück hatte, noch zu leben, als Buchenwald befreit wurde, zu Lesungen nach Deutschland kommt, kann er also durchaus mit großem Publikumsinteresse rechnen. Anders als in Ungarn, wo man es heute noch immer als Zumutung empfindet, mit dem Thema Judenvernichtung konfrontiert zu werden. Im Land der Mörder freilich ist man süchtig nach dem kulturellen Zuckerguß über die Taten seiner Kriegsverbrecher-Großväter. Den aber liefert Kertész nicht.

Die Berechtigung wird man dem Buch eines Zeitzeugen sowieso nicht absprechen wollen. In der Flut mehr oder weniger autobiographischer Literatur zu diesem Thema finden sich aber nun einmal Bücher von grob unterschiedlicher literarischer Qualität. Die Frage jenseits unpassender Mäkelei ist letztlich, ob ein solches Buch den besagten Zuckerguß liefert oder eben nicht. Ob das Sinnlose, Unbegreifliche der nationalsozialistischen Verbrechen dem Leser sich mitteilt oder aber in der Fiktionalisierung neutralisiert wird. Wenn es ein Buch gibt, das dieser Gefahr wirklich entgeht, dann ist es Sorstalangsag von Imre Kertész, 1975 erstmals kaum beachtet in Budapest erschienen. Der Roman eines Schicksallosen arbeitet mit dem Kunstgriff, die ganze Leidensgeschichte von der Verhaftung bis zum KZ mit der Naivität des Halbwüchsigen zu erzählen, der nicht weiß, wie ihm geschieht, der zunächst meint, alles geschehe zu seinem Besten, auf den die KZ-Häftlinge suspekt wirken, wie Verbrecher. Alles historische Hintergrundwissen, jede Einordnung des Geschehens wird konsequent ausgeblendet, während das Geschehen seinen unerbittlichen Lauf nimmt. Einen "atonalen Roman" wollte Kertész schreiben, einen Roman, "in dem sich keinerlei statische Moral findet, nur die ursprünglichen Formen des Erfahrens, die Erfahrung im reinen und geheimnisvollen Sinne des Wortes." Mit der Veröffentlichung einer zweiten deutschen Übersetzung - eine erste erwies sich als unzureichend - fand der Roman eines Schicksallosen dann 1996 endlich Beachtung.

"Auschwitz spricht aus mir", sagt Imre Kertész, und das änderte sich auch nach der Beendigung des Romans nicht. Der Roman eines Schicksallosen, an dem Kertész 13 Jahre lang gearbeitet hatte, war vom staatlichen Verlag abgelehnt worden. Aus dieser ausweglosen Situation heraus entstand, gleichsam als Meta-Roman zum Roman eines Schicksallosen, Fiasko. Das Buch ist jetzt bei Rowohlt Berlin erschienen. Eine Rahmenhandlung beschreibt die Situation des Autors des Roman eines Schicksallosen: Ein alternder Schriftsteller, zunächst überzeugt, ein bedeutendes Werk verfaßt zu haben, findet damit keinen Anklang. Der Verlag bescheidet ihm, das "Erlebnismaterial" nicht in den Griff bekommen zu haben, stößt sich an vermeintlichen Zynismen. "Mein Roman ist nichts als eine Antwort auf die Welt", résumiert der "Alte", "anscheinend die einzige Art von Antwort, die ich geben kann." Von Lärm und Alltagssorgen geplagt sitzt der Schriftsteller in seiner 28 m2-Wohnung, weiß nur, daß er weiterschreiben muß. Schließlich greift er, mehr oder weniger willkürlich, auf eine alte Skizze zurück und schreibt einen Roman mit dem Titel Fiasko. In dessen Mittelpunkt steht wieder ein Schriftsteller - Alter ego des Autors, ein Journalist namens Steinig. Die Handlung setzt auf einem verlassenen Flughafen ein, und Steinig wird auf eine Reise in seine Vergangenheit geschickt. Die Stadt, in die er kommt, ist ihm fremd, und doch kennt er sie. Vermittelt wird die Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit in einer noch sichtbar zerstörten Stadt. Was sich entspinnt, ist ein "Roman der Schicksallosigkeit" unter den Bedingungen des Stalinismus. Nichts wird dabei beim Namen genannt, alles ist gesteuert von undurchschaubaren Mächten. Der Protagonist Steinig und mit ihm der Leser, weiß nie, wie ihm geschieht, scheint über entscheidende Informationen nicht zu verfügen. Oft wird ihm das nachgesehen, oft aber auch zum Verhängnis. Steinig will nicht mitspielen. Er fügt sich ohne Widerspruch in sein Schicksal, das keines ist. Er wird von einem Beruf in den nächsten gestoßen, für ihn stets überraschend, mal ist er Gefängniswärter, mal tätig in der Presseabteilung eines Ministeriums. Am Ende der Romanhandlung stürmen Menschen mit Transparenten auf die Straße: "Wir wollen leben!" Freunde wollen Steinig zur Flucht ins Ausland überreden, der aber weigert sich, weil er einen Roman schreiben muß. Ein Echo des Ungarn-Aufstandes 1956. Auch der Autor Imre Kertész hat sich in seiner kleinen Budapester Wohnung jahrelang vergraben, um den Roman zu schreiben, den er schreiben mußte. 1988 ist Fiasko in Ungarn erschienen. 1990 folgte Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, die "Trilogie der Schicksallosigkeit" vervollständigend - ein wütender Monolog, in dem der Holocaust-Überlebende B. erklärt, warum man nach Auschwitz keine Kinder mehr zeugen dürfe. Mit der Außerung: "Dein Nicht-sein als radikale und notwendige Liquidierung meines Seins betrachtet", wendet er sich an sein ungeborenes Kind.

Zum Ungarn-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse hat der Rowohlt Verlag nun das Gesamtwerk von Imre Kertész auf Deutsch vorgelegt. Neben der "Trilogie der Schicksallosigkeit" gibt es einen Band mit Essays, die auch um das Thema Auschwitz kreisen, einen Erzählband, das Galeerentagebuch (1961-91) und ein Buch mit Notizen aus den 90ern: ich - ein anderer.

Florian Neuner

Imre Kertész:
Fiasko (aus dem Ungarischen von György Buda und Agnes Relle). Rowohlt Berlin 1999. DM 45.-
Roman eines Schicksallosen (aus dem Ungarischen von Christina Viragh). Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1998. DM 16.90
Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (aus dem Ungarischen von György Buda und Kristin Schwamm). Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1996. DM 12.90
Eine Gedankenlänge Stille, bevor das Erschießungskommando neu lädt. Essays. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999. DM 14.90

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