Ausgabe 01 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1899

28. Januar bis 24. Februar

Zum Thema Zwergenwuchs und verwandte Wachstumsstörungen spricht Dr. Joachimsthal in der Sitzung der Anthropologischen Gesellschaft. Durch Projectionsbilder liefert er den anschaulichen Beweis, daß die Zwergenhaftigkeit mit einem Stillstand der Knochenbildung im kindlichen Stadium zusammenhängt, aber doch sehr unterschiedlich zu einer ähnlichen, als englische Krankheit bekannten Erscheinung ist. In beiden Fällen gelangt die Umbildung der im kindlichen Körper an den Gelenken vorhandenen Knorpel- in Knochenmasse zum Stillstand, im Fall der zweiten, auch Rhachitis genannten Krankheit aber wuchert die Knorpelmasse gleichzeitig krankhaft. Die Anomalie des Zwergenwachstums braucht deshalb nicht dauerhaft zu sein, ja es sind Fälle bekannt, wo sich viel später als beim normal entwickelten Menschen noch Wachstum zu normaler Größe einstellte. So sind nach sorgfältigen Messungen sämtlicher Mitglieder der bekannten Liliputanertruppe, trotz ihrer 30 bis 36 Jahre, in langsamen Wachstum. Die vorgeführte Durchleuchtung der Gliedmaßen rhachitischer Kinder lässt es als ein halbes Wunder erscheinen, dass diese Krankheit so häufig geheilt wird.

Der diesjährige Osterumzug wird der schwierigste und umständlichste seit langer Zeit. Denn die Osterfeiertage fallen mitten in die polizeilich festgesetzte Umzugszeit. Nach der geltenden Polizeiverordnung sind nämlich Wohnungen von einer Stube und Küche am 1. April zu räumen; Wohnungen von zwei bis drei Stuben und Küche würden, da der 2. und 3. April Feiertage sind, erst am 4. zu räumen sein, worauf der Umzug für Mieter größerer Wohnungen am 5. April zu erfolgen hätte. Nun bestimmt aber dieselbe Verordnung, dass bei mittleren und größeren Wohnungen mindesten ein Zimmer bereits am 1. April einzuräumen ist. So kann es kommen, dass manche Familien über die Osterfeiertage in zwei verschiedenen Wohnungen mit ihren Möbeln und Wirtschaftgegenständen hausen. Der 31. März, der sonst vielfach zu Umzügen benutzt wird, ist diesmal auch nicht verfügbar, da an diesem Tag Karfreitag ist.

Zum Damenkrieg im Verein "Frauenwohl" äußert sich der Geh. Sanitätsrat Dr. Küster, der als Mitglied der Vereinsversammlung beiwohnte: "Frau Bieber-Böhm setzt die ganze bewundertwerthe Kraft ihres Idealismus an die Bestrebungen zur Hebung der Sittlichkeit. In dieser Frage zeigt sie ein an Fanatismus grenzendes Temperament. Sie glaubte nun, dass Frau Cauer ihr hier nicht so folge und mit ihr fühle, wie sie es wünschte. In dieser Annahme war Frau Bieber-Böhm durch einen Bericht bestärkt worden, der im Sommer v. J. aus London eingetroffen war.

Dort tagte zur Prüfung der Sittlichkeitsfragen ein Internationaler Congreß, zu dem der Verein "Frauenwohl" Frau Cauer abgeordnet hatte. Obwohl es sich herausstellte, daß Frau Cauer, das was ihr der Bericht in den Mund gelegt, gar nicht gesagt, und daß sie auf dem Congreß überhaupt nur den bekannten Fall Köppen behandelt hatte, war seitdem das Mißtrauen der Frau Bieber-Böhm nicht mehr zu beseitigen. So griff eine Mißstimmung Platz, die sich in den Sitzungen des Vorstandes in allerhand kleinen Reibereien und Empfindlichkeiten Luft machte. Diese im Vorstand herrschende wenig behagliche Temperatur war selbstverständlich kein Geheimis geblieben, und als die Damen am Montag zur Neuwahl ihrer Leitung schritten, da sagten sie sich mit Recht, daß die Wiederherstellung eines im Vorstand herrschenden harmonischen Geistes die erste Bedingung für das weitere Blühen des Vereins sei.

Frau Cauer erhielt darauf bei der Wahl die Mehrheit. Es ist aber mit aller Entschiedenheit zu betonen, daß in dieser Entscheidung auch nicht die leiseste persönliche Spitze gegen Frau Bieber lag, und gar nun die Absicht, die allverehrte Dame verleumden oder verdächtigen zu wollen, hat gar erst vollends ferngelegen. Man wollte keine Gründe für die Ablehnung nennen, um die Dame, deren Verdienste jeder anerkennt, nicht zu verletzen. Aber daß hinter diesem Schweigen schwere Verdächtigungen sich verbergen sollten, das haben nur die Angänger der Frau Böhm in ihrer Erregung der Gegenpartei untergeschoben.

So fasse ich meine Ueberzeugung dahin zusammen, daß nicht etwa principielle Fragen, sondern lediglich sogenannte "Häkeleien" den Kampf im Verein "Frauenwohl" heraufbeschworen haben."

Eine unangenehme Überraschung bereitet der 56jährige Tischler Hermann B. seiner Familie, die sich auf einen Maskenball begeben hat. Nachdem er seiner Ehefrau vorher für die Feier fünf Mark spendierte, nutzte er das Alleinsein nach einer übermäßigen Zecherei, um sich an einer Bettstelle zu erhängen. Die Familie findet ihn in der Reichenberger Straße tot vor. Da B. seit 29 Jahren als tüchtiger Arbeiter in der Bechsteinschen Fabrik beschäftigt ist und in geordneten Vermögens- und Familienverhältnissen lebt, fehlt für die Tat jede Erklärung.

Falko Hennig

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