Ausgabe 06 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

26. März bis 9. April

Eine Eingabe der hiesigen Gemeindeschuldiener wird dem Magi-strat und der Stadtverordnetenversammlung übergeben. Protestiert wird gegen die Behauptung, ein großer Teil der hiesigen Gemeindeschuldiener sei dem Trunke ergeben und deshalb einer Gehaltsaufbesserung unwürdig. Der Magistrat soll für eine Richtigstellung und eine öffentliche Ehrenerklärung der Angegriffenen sorgen.

Die "Freie Radfahrvereinigung Berliner Lehrer" behandelt in ihrer Sitzung die Frage: Wie erzieht man seinen Körper zu andauernden Leistungen im Sport? Ein Referent weist darauf hin, dass die vielen modernen Krankheiten Folge ungenügender Leibestüchtigkeit seien. Alle fetten und stark gewürzten Speisen seien zu vermeiden, wie auch geistige Getränke. Schlecht ist auch der Genuss von Kartoffeln, Gemüse und Mehlspeisen. Zu empfehlen sind dagegen mageres, in seinem eigenen Saft gebratenes Fleisch, Eier, Obst und gut ausgebackenes Brot.

Instinkt oder Verstand? ist das Thema eines Vortrages von Professor Möllenhoff im Deutschen Thierschutzverein. Der bekannte Totengräberkäfer vergräbt die Leichen kleiner Tiere in der Erde, die seinen Larven als Nahrung dienen. Dabei gräbt er Steine, auf denen der Kadaver liegt, den er nicht herunterwälzen kann, einfach mit ein. Dies Verhalten scheint auf Überlegung zu beruhen, wie auch das des Maulwurfes, der seinem Wintervorrat an Regenwürmern den Kopf abbeißt. Diese Regenwurmköpfe würden während der warmen Jahreszeit wieder nachwachsen, aber nicht im kalten Winter. So vermindert der Maulwurf scheinbar bewusst die Bewegungsfähigkeit der Würmer.

Auch der Regenwurm selber, der von faulenden Pflanzenstoffen lebt und sich Grashalme in seine Löcher zieht, damit sie dort vermodern und ihm Nahrung bieten, scheint doch von Intelligenz, von Überlegung geleitet zu sein. Aber zwischen Intelligenz und Instinkt liegt noch die Erfahrung, durch die auch Tiere lernen, zweckmäßige Handlungen auszuführen. Das ist aber nicht auf Intelligenz, sondern auf die Erinnerung zurückzuführen, während die daruas resultierenden Handlungen unbewusste, meist reflektorische sind. Und die werden ja auch vielfach von Menschen neben den bewusst zweckmäßigen ausgeführt.

Ein weiteres Stück Dorf in der Weltstadt ist im Verschwinden begriffen. Gemeint ist damit der Rest ländlichen Berlins, der an der Ecke Wiesen- und Hochstraße aus der Vorzeit in unsere Tage hineinragt. Wieder macht eins jener verfallenen, halb ländlichen Anwesen, von denen es hier vor einem Jahrzehnt noch etwa ein Dutzend gab, einem Neubau Platz. Von dem Idyll bleiben dann nur noch fünf oder sechs der niedrigen, gartenumhegten Hütten, die einst dem Norden seinen Charakter gaben.

Ein größeres Weltstadtdorf hat sich, unter dem Schutz der alten Stettiner Bahnstrecke, östlich der Bellermannstraße beiderseits der Grünthaler Straße erhalten. Die Bahnstrecke hat hier jahrzehntelang jede bauliche Fortentwicklung verhindert, und ihr Bahndamm steht ihr teilweise jetzt noch im Weg. Ungefähr 50 jener niedrigen, ein- und zweistöckigen Häuschen kann man dort finden, die alle in romantischen, halbverwilderten Gärten liegen. Doch schon hat der schützende Damm der Stettiner Bahn große Lücken. Die Bellermannstraße ist durch ihn hindurchgelegt, und wo die Grünthaler- und die Bölckestraße von der Christianiastraße gekreuzt werden, ist er völlig eingeebnet. Bis zur hohen Überführung der Nordbahn ragt er nur noch auf halber Höhe auf.

Aber immer noch verliert sich die Christianiastraße in des Gesundbrunnens weitem Laubenterrain. Die Behmstraße, dieser benachbarte Straßentorso, verliert sich trotz ihres stattlichen Anfangs schließlich in Urland. Immer noch ist in der Gleim- und oberen Schwedter Straße das Abladen von Müll, Schutt und Erde bei strenger Strafe verboten. Moderne Beleuchtung gibt es hier nicht, in diesen ländlichen Straßen herrscht die Petroleumlaterne. Von modernen Verkehrsmitteln keine Spur, froh ist man, wenn man, diesen Landdistrikt durchpilgernd, in der Schönhauser Allee einen jener primitiven Pferdebahnwagen erwischt, wie sie jetzt während des großen Umwandlungsprozesses den Außendienst in den entfernten Stadtteilen versehen.

Neue Fernsprechapparate werden von der Postverwaltung aufgestellt. Sie haben an der unteren Fläche des Gehäuses zwei Glocken, und zwischen diesen einen Glockenhammer. Seit Einführung des Induktorbetriebes 1893 ist darauf hingewiesen worden, dass es ausreicht, die Kurbel höchstens einmal ganz herumzudrehen, um die Klappe der Vermittlungsanstalt zum Abfallen oder den Wecker des gewünschten Teilnehmers zum Klingeln zu bringen. Doch viele drehen trotzdem lang anhaltend oder wiederholt in kurzen Zwischenräumen. Damit werden die Gespräche anderer gestört und die Personen in den Teilnehmerstellen durch die starken elektrischen Ströme vielfach belästigt. Mit den neuen Apparaten soll das nicht vorkommen, besitzen diese doch polarisierte Wecker.

Der Gemüsemarkt der Markthalle hat ein frühlingsmäßiges Aussehen erhalten. Neben den treuen überwinterten Kohlarten, Weißkohl, Rotkohl und Wirsing, den Kohl- und Mohrrüben, leuchten in frischestem Grün frühe Mistbeetgewächse, Salate und Gemüse. In vielen Haushalten muss zum Grün-Donnerstag ein grünes Gemüse aufgetischt werden. Ein Abglanz der alten Sitte des Gründonnerstagsmuses, das aus allerhand grünen Gewächsen hergestellt wurde, und dessen Genuss vor aller Verzauberung schützen sollte. Man nahm gern Spinat oder Grünkohl, andere Hausfrauen bevorzugten Sprossen- oder Sprutenkohl.

Falko Hennig

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  Ausgabe 06 - 1998