Berlin 1894 bis 2007
Es begann alles mit vier riesigen Folianten des Teltower Kreisblattes aus
dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die mein Vater kaufte, als ich
noch ein Kind war. Er begann sie abzuschreiben und die Texte unter eigenem
Namen zu veröffentlichen, und das schien mir eine vielversprechende und
solide Methode des Publizierens.
Meine Innovation bei diesem Journalismus bestand darin, die jeweiligen
Zeitungsbände in der Bibliothek einzusehen und dort abzuschreiben. Bald
übernahm mein Vater dies Prinzip, zwischenzeitlich hatte ich mir schon
Sorgen um seine geistige Gesundheit gemacht. Ich fürchte einige Zeit, als
seine Kreisblätter fertig abgeschrieben waren, dachte er sich alle seine
Artikel aus, statt auf zuverlässige Quellen zurückzugreifen. Jetzt fehlte
mir nur noch ein Publikationsorgan.
Leider hielt sich bei meinen Texten die Begeisterung in
der Berliner
Redakteurs-Gilde in Grenzen. Niemand wollte die Texte abdrucken,
außer dem
scheinschlag, wahrscheinlich weil die gar keine Redakteure hatten. Nun
ist also Schluß, die letzte Kolumne in der letzten Ausgabe. Den
finanziellen Verlust werde ich recht gut verkraften. Als ich damals
begann,
gab es noch ohne Probleme Arbeitslosengeld, so war ich wirtschaftlich
unabhängig. Inzwischen bin ich seit fast zehn Jahren
selbständig, einfacher
ist für mich dadurch nichts geworden, ökonomisch ging alles
den Bach
runter. Und ich habe inzwischen zwei Töchter, die immer
“Hunger!
Hunger!” schreien. Ich bekam in den letzten Jahren 50 Euro pro
Nummer für
Text und Bild. Das war nicht wirklich viel. Obwohl ich durch meine
Routine
im Heraussuchen der Döntjes den zeitlichen Aufwand
einigermaßen im Rahmen
halten konnte, kam trotzdem doch immer ein Arbeitstag zusammen.
Aber diese schönen Fahrten ins Zeitbergwerk werde
ich vermissen. Immer wieder traf ich im jeweiligen Zeitungslesesaal der
Staatsbibliothek meinen Vater. Verrückterweise zog dieser Lesesaal
irgendwann in den Westhafen um, wo er noch heute ist. Mein Vater ist
dem Metier treu geblieben, manchmal gingen wir zusammen ins Casino,
aßen Bockwurst, tranken Bier und tauschten uns über die
neuesten Nachrichten von vor 100 Jahren aus: der Untergang der
“Elbe”, Freiherr von Kotzes dramatisches Ende, Leser dieser
Kolumne wissen, was ich meine.
Damals, 1894 als ich begann, war der Lesesaal noch in
der Bibliothek Unter den Linden. Fontane, Helmholtz und Bismarck lebten
noch und ihre Lebensgeschichten waren mir näher als die meiner
eigentlichen Zeitgenossen. Ich schrieb sie ab auf kleine Zettel, die
ich dann in der Redaktion, erst in der Tucholskystraße, dann in
der Brunnen- und irgendwann in der Ackerstraße, in die Computer
tippte.
Die riesigen Bände der Zeitungen aufzuklappen und
zu blättern, war nicht ungefährlich. Jedenfalls für die
Zeitungen, das Papier war bräunlich verbrannt durch die vergangene
Zeit, es brach beim Umblättern. Oft genug war ich der letzte, der
noch darin lesen durfte, nach mir wurden sie für die
Öffentlichkeit gesperrt. Der Grund liegt in einer für das
menschliche Wissen unheilvollen Erfindung, dem Zeitungspapier aus
Holzschliff. Die darin enthaltene Säure zerstört es, der
gesamte Erfahrungsschatz der Zeitungen des 20. Jahrhunderts ist bedroht
und nicht nur der.
Praktisch war das ganze einseitig bedruckte Faxpapier,
das sie in der Redaktion einfach wegwerfen wollten. Ich nahm es mit und
druckte meine ersten beiden Romane darauf aus. Da sparte ich viel Geld
und meine Kollegen, denen ich die Romane zu lesen gab, bestätigten
mir alle, daß die Rückseiten viel interessanter gewesen
seien, als das von mir. Das war wohl der Grund, daß ich zur
grauen Eminenz des scheinschlag werden konnte: Ich tauchte einfach nur
kurz in der Redaktion auf, warf Text und Bildvorlage ab und verschwand
wieder mit einem möglichst gigantischen Stapel aussortierten,
einseitig bedruckten Faxpapiers. Dadurch wurde ich von den menschlichen
Spannungen und Querelen verschont, die ja sonst bei einer Zeitung
unvermeidlich sind.
Insgesamt hat es mir nicht gut getan, ich habe mich zwar
beim Blättern, Lesen und Abschreiben der Zeitungen pudelwohl
gefühlt, aber mir kam die Kommunikationsfähigkeit abhanden,
ich wurde immer eigenbrötlerischer, sozial unerträglicher,
kauziger und bin inzwischen völlig neben der Spur. Das ging
soweit, dass ich einmal die Kolumne sogar vergessen habe, ich lief
verstrahlt durch Florenz, RATZINGER NUOVO PAPA stand in der Zeitung. In
Berlin ist dankenswerterweise Jörn Luther eingesprungen und hat
die Kolumne gerettet.
Es wird wohl nicht nochmal eine Zeitung geben, in der
ich 14 Jahre lang in jeder Ausgabe eine Kolumne abgedruckt wissen kann.
Als ich begann, war ich Mitte 20, jetzt, da die Kolumne samt der ganzen
Zeitung ausläuft, bin ich fast 38 Jahre alt.
Oder gibt es Hoffnung, kann ich die Angelegenheit irgendwo fortführen? Liest noch jemand mit? Ein Redakteur?
Dachte ich es mir doch: Niemand.
Falko Hennig