Unterwegs im
Heimatland
Der Nebel in der Ferne wird eine Wolke, die auf
dich zuschwebt. Erreicht sie dich, löst sie sich über
dir auf, bist du meilenweit von Leichtigkeit entfernt. Deine Kleider
werden naß, und dein Weg wird schwerer, jeder Muskel spannt
sich, und dich friert.
Diese Spannung reißt dich hin und her,
zwischen Horizont und deinem Standort, deinen Wegen, kommt dieser Bogen
zustande, so eine Art Sehnsuchtsbogen. Überspannt,
reißt er, erfüllt, löst er sich auf, und du
stehst da wie ein begossener Pudel.
Die Vorstellung ist tierisch es
interessiert kein Aas, keinen Henker, Geier, kein Schwein, den Teufel
nicht das menschliche an dieser Aufführung ist,
daß der Henker auftritt. Der Henker hat sich zur Ruhe
gesetzt, ist Kontaktbereichsbeamter in St. Gangloff, ledig. Auch dieser
Berufsstand stirbt aus, kommt ins Archiv, wird aufgebahrt als
Statistikleiche.
„Scher dich zum Teufel", zieht nicht im
Teufelstal, wo der Wind dir die Brüdergasse hinauf um die
Ohren fegt. Du pfeifst dir eine Pferdeboulette ein, die ist versalzen,
schmeckt wie alter Ziegenbock unter der Achsel.
Den Vorgarten der Pferdefleischerei beherrscht
eine Miniatur-Mühle. Oberwasser im Garten haben die Zwerge,
Förster, Rehe und Elfen. Im Teufelstal.
Du bewegst dich in Richtung Ursprung, und alles
ist verdeckt Umweltamt, Heimatstube, Amtsblatt. Du kommst ab
vom Weg, und siehe da: Lattenscheune, Stein/Feldstein/Fassung, alles
einfach und aufeinander bezogen.
Der Hahn kräht auf dem Weg in den Grund.
Auf einem Schild wird vor dem freilaufenden Bullen gewarnt. Da
schnürt ein Fuchs über den Weg es ist
Mittag, der Hahn kräht öfter, als der Kirchturm
schlägt, und im abgezäunten Gelände der
Wasserwirtschaft grasen zwei schwarze Schafe oberhalb des stillgelegten
Retentionsbeckens. Ein Vogel mit gelbem Kopf ein Pirol?
sitzt auf dem Drahtzaun und flötet. Drei Habichte
kreisen. Spiel mir das Lied vom Tod.
Die Wolken hängen heute tief. Es riecht
nach Schnee. Glück ist ein biochemischer Prozeß,
versuche ich mir einzureden. Noch einmal Glück gehabt. Ich bin
glücklich. Ich lebe. Schwebend unwirksam. Früher
haben sie Butter in Rhabarberblätter gewickelt.
Wie auch immer ich die Dinge drehe und wende und
wende und drehe und drehe und wende, ich bin am Ende da, wo ich am
Anfang war. Die Drehtür des Lebens: Es kommt eine Aufgabe auf
dich zu, du gehst drauflos, stemmst all deine Kräfte gegen den
Handlauf der Drehtür. In den Glas-Segmenten zwischen den
Kammern sind Ausblicke drapiert, worauf das alles hinauslaufen
könnte, strengst du dich nur gehörig an. Los! Du
vergibst Energie, du setzt ein, du spürst dich dabei als eine
Kraft, die etwas bewegen kann, du hörst Begeisterung und
Applaus für dich dort, wo du hin willst und dann
kommt der Ausgang, du könntest auf das Offene zugehen, aber da
wird dir noch eine Runde vorgeschrieben, nun in die andere Richtung. Du
bist schon geübt, nun wird es leichter, schneller und
erfolgreicher sein, dein erneuter Göpelgang wird nun ein
kleiner Kraftakt sein, gleichsam Routine, aber das ist ein
Trugschluß. Die andere Richtung im gleichen Gelände
verlangt nicht den gleichen Einsatz. Entgegengesetzt, so
fühlst du dich. Es ist wie im Traum, wenn du verfolgt wirst
und nicht laufen kannst, du trittst auf der Stelle. Angetrieben vom
Willen, am Ziel anzukommen, hoffst du auf die Ruhe eines Menschen, der
am Ziel angekommen ist, und drehst weiter, weiter, immer am Ziel
vorbei, und wenn du den Moment erwischst, der dich aussteigen
läßt, stehst du wieder am Anfang. Eine wirkliche
Veränderung ist nur in der Zeit geschehen. Sie ist vergangen,
und mit ihrer Vergangenheit bist du anders geworden. Sie geht spurlos
an dir vorbei, sie verläßt dich einfach. Du kommst
in einer anderen Zeit an.
Hinter Zäunen steht der Wachturm, den
sich ein Hamburger zur Wochenendbleibe ausgebaut hat, an der besten
Stelle mit Weitblick über die Elbe bis zum Spionageturm in der
ehemaligen britischen Zone am anderen Ufer.
Hier an der Elbe, wo man weit blicken kann, gab es
bis 1938 ein Dorf, das Wendisch-Wehningen-Broda-Sandwerder
hieß, obwohl es sehr klein war. Völkische benannten
es in Rüterberg um. Nach dem Krieg grenzte es von drei Seiten
an die britische Zone. Sperrzone hieß das für die
Bewohner, Passierscheinpflicht und Zwangsräumungen
ließen Rüterberg zu einem sperrigen Ort werden. Wohl
wichtige Vermessungsarbeiten auf der Elbe brachen 1966 einen Streit
zwischen den Groß- und deutschen Mächten vom Zaun,
der als „Schlacht von Gorleben" den Ort an der anderen Seite,
heute bekannter als geplantes Endlager für Atommüll,
zum ersten Mal in die Schlagzeilen brachte. Bei den Vermessungsarbeiten
kam man sich ins Gehege, was den Rüterbergern einen weiteren
Zaun eintrug, der sie von der DDR trennte. Bis 23 Uhr mußten
die wenigen verbliebenen Einwohner in den Käfig, da wurde das
Tor geschlossen. Als es sich öffnete, 1989, schufen die bis
dato Eingehegten die Freie Dorfrepublik Rüterberg, die sie
noch heute vorzeigen können, wenn die Touristen kommen.
Brigitte Struzyk
Brigitte Struzyk berichtete von Februar 2003 bis
Juni 2007 regelmäßig über Ditte und
Menschenkind.