„Die bürgerliche Freiheit wird
weiter eingeschränkt"
Norbert Pütter über repressive
Prävention und die Produktion von Unsicherheit

Illustration: Jan Gillich
„Sicherheit"
ist das Thema. „Mehr! Mehr!" tönt es von allen
Seiten. Und kein Politiker, der etwas auf sich hält, weil er
wiedergewählt werden möchte, kann sich dem Ruf
widersetzen. Also dreht die schwarz-rot-rot-grüne Koalition
weiter an der Schraube, derweil der Bürger, der mit
„Freiheit" mehr im Sinn hat als Geldverdienen, laut
aufschreit. Norbert Pütter lehrt Politikwissenschaft
an der FU Berlin und leitet das Institut für
Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V.
Wenn
man die Entwicklung der Politik der Inneren Sicherheit seit 1989 Revue
passieren läßt, dann wird häufig der 11.
September 2001 als entscheidender Wendepunkt genannt. Sehen Sie das
auch so?
Einige Experten sind der Meinung, daß
bis zum 11. September alles in rechtsstaatlich einwandfreien Bahnen
lief und dann der Untergang des Rechtsstaats begann. Das ist falsch.
Die Erosion rechtsstaatlicher Standards hat früher eingesetzt.
Ein klassisches Beispiel ist der europäische Haftbefehl,
dessen Einführung schon lange vorher geplant war. Die
Umsetzung dieses Vorhabens wurde durch die Anschläge
bloß beschleunigt, Widerstände und Bedenken auch von
etablierten Vertretern rechtsstaatlichen Denkens konnten leichter
überspielt werden. Im Zusammenspiel zwischen den Interessen
der Strafverfolgungsbehörden, der Polizei und einer Politik,
die nun Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren will, konnte
jetzt einiges durchgesetzt werden.
Bis
wann muß man zurückgehen, um die heutige Situation
zu verstehen?
Die Vorgeschichte reicht bis in die 70er Jahre
zurück, als der Begriff der „vorbeugenden
Verbrechensbekämpfung" erfunden wurde. Seitdem orientiert sich
die Kriminalitätsbekämpfung strategisch an der Idee,
nicht zu warten, bis Kriminalität passiert, sondern sie
vorbeugend zu verhindern. Die Polizei begann mit Observationen, dem
Einsatz von verdeckten Ermittlern und V-Personen. In den 80er Jahren
wurde diese Praxis im Polizeirecht legalisiert und in den 90ern in der
Strafprozeßordnung (StPO).
Wobei
Vorbeugung doch nicht schlecht ist.
Vorbeugung ist gut, aber wenn sie mit repressiven
Mitteln erreicht werden soll, wird sie zum Problem. Da Vorbeugung immer
auf einer Prognose fußt, sind Grundrechtseingriffe immer mit
einem Unsicherheitsfaktor behaftet. Dazu kommt, daß die
Daten, die der Prognose zugrundeliegen, nicht unabhängig
überprüfbar sind, weil sie von der Polizei erhoben
wurden.
Man kann das sehr gut bei der
Telefonüberwachung erkennen, wo es den berühmten
Richtervorbehalt gibt, der den Ermittlungswunsch der Polizei in
rechtsstaatliche Formen einbinden soll. Es ist allerdings empirisch
nachgewiesen worden, daß dieser Vorbehalt weitgehend ins
Leere läuft. Die Richter haben nicht nur zu wenig Zeit, um den
Antrag zu prüfen, sondern sie sind auch materiell nicht in der
Lage, weil sie keine anderen Erkenntnisse haben als die, die ihnen die
Polizei liefert. Und wenn die Polizei angibt, daß sie durch
eine Telefonüberwachung eine Rauschgiftbande auffliegen lassen
kann, wird sich da kein Richter entziehen. Insofern hört sich
„Prävention" zuerst einmal sehr gut an, dient aber
vor allem als Mittel, die Schwellen für Eingriffe in
Bürgerrechte zu senken.
Aber der Staat
braucht doch Instrumente, um Kriminalität zu
bekämpfen.
Sicher. Aber die gegenwärtige Entwicklung
im Eingriffsrecht ist so, daß die Eingriffsschranken, also
etwa die Frage, bei welchem Delikt welche Maßnahme ergriffen
werden darf, sinken. Jeder würde die
Telefonüberwachung bei einer Geiselnahme, einem Mord oder
anderen schweren Delikten bejahen. Aber diese schwerwiegenden Eingriffe
werden in der aktuellen Gesetzgebung nicht mehr an einen Katalog von
konkreten Straftaten gebunden, sondern durch pauschale
Ermächtigungen wie bei „Straftaten von erheblicher
Bedeutung, die organisiert begangen werden", ersetzt.
Wobei sich dann die Frage stellt, was das
heißen soll: „organisiert"? Oder:
„Straftaten von erheblicher Bedeutung"? Das sind unklare
Rechtsbegriffe, die bewußt verwendet werden, um den
Ermittlungsbehörden ein Repertoire an die Hand zu geben, damit
sie in jeder Situation auf eine Rechtsgrundlage zurückgreifen
können. Als Ausgleich stärkt man die rechtlichen
Kontrollmöglichkeiten, indem Anordnungsbefugnisse und
Benachrichtigungspflichten und so weiter festgelegt werden
ein Irrweg! Alle Untersuchungen zeigen, daß sich das neue
Instrumentarium so nicht begrenzen läßt.
Warum drehen
sich die Auseinandersetzungen so oft um den Strafprozeß und
die StPO?
Es gibt in Deutschland zwei Rechtssysteme, die
Eingriffe ermöglichen: Zum einen das Polizeirecht, das der
Gefahrenabwehr dient. Wenn ein Baum auf den Bürgersteig zu
stürzen droht, hat die Polizei die Befugnis, diese Stelle
abzusperren. Die konkrete Gefahr rechtfertigt den Eingriff in die
Bewegungsfreiheit.
Zum zweiten das Strafprozeßrecht, das
einerseits dazu dient, die Rechte des Bürgers im
Strafverfahren zu sichern, und andererseits die Rechtsgrundlagen
für Eingriffe im Rahmen der Strafverfolgung bietet. In dem
Maße, wie sich die polizeirechtliche Gefahrenabwehr von der
konkreten Gefahr in Richtung vorbeugende Verbrechensbekämpfung
ausweitet, müssen die Eingriffsbefugnisse des
Strafprozeßrechts entsprechend angeglichen werden. Wenn die
Justiz im Strafverfahren Beweismittel verwenden will, die auf der Basis
von im Polizeirecht geregelten präventiven Eingriffen erhoben
wurden, um z.B. Rauschgifthändler verurteilen zu
können, braucht sie auch eine Ermittlungsbefugnis in der StPO.
Deshalb ist in der ersten Phase zunächst das Polizeirecht
erweitert worden, und in der zweiten Phase, seit den 90er Jahren, wird
versucht, analoge Befugnisse in die StPO zu integrieren.
Das
ist ja eigentlich konsequent.
Ja, aber durch diesen Transfer werden sowohl die
Einsatzschwellen also der Verdachtsgrad als auch
die Standards des Strafprozesses abgesenkt. Letztlich kann das
bedeuten, daß im Strafprozeß plötzlich
Beweise eingeführt werden, die unter klassischen
StPO-Bedingungen gar nicht hätten zustandekommen
können. Wenn die Polizei z.B. eine Rauschgiftbande beobachten
und auffliegen läßt, löst sich ja nicht das
Rauschgiftproblem, weil die Nachfrage nicht beseitigt wird. Also sollen
die Quellen in den Nachfolgestrukturen verbleiben und weiterhin
Informationen liefern. Weil ihre Identität nicht enttarnt
werden soll, dürfen sie nicht im Strafprozeß
auftreten; man versucht deshalb, ihre Informationen irgendwie zu
filtern, indem man Surrogate schafft. Das kann ein Sachbeweis sein,
z.B. wird jemand beim Drogenhandel von der Polizei beobachtet und
festgenommen. In diesem Fall muß die V-Person nicht mehr
aussagen, die vorher die Polizei über den Deal informiert hat.
Doch woher weiß die Verteidigung, daß der
Rauschgifthandel nicht etwa von dieser V-Person eingefädelt
wurde? Wurde da vielleicht jemand hereingelegt? Diese Fragen sind
gerichtlich nicht mehr überprüfbar, weil der, auf den
der Sachbeweis zurückgeführt wird, geschützt
werden muß.
Wie man am 11. September 2001 gesehen hat, ist die
westliche Zivilisation höchst störanfällig.
Gibt es nicht doch die Notwendigkeit, bestimmte Sicherheitsvorkehrungen
zu treffen?
Natürlich gibt es kritische
Infrastrukturen, die des Schutzes bedürfen. Gegen die
körperliche Durchsuchung an Flughäfen würde
kein vernünftiger Mensch etwas einwenden. Allerdings
existieren Risiken wie die Atomenergie, die selbstgemacht sind.
Außerdem stellt sich die Frage, ob Maßnahmen, die
mehr Sicherheit schaffen sollen, tatsächlich dazu geeignet
sind. Beispielsweise schafft man durch die Aufnahme biometrischer
Merkmale in Ausweispapiere eine weitere kritische Infrastruktur, weil
auch sie nicht fälschungssicher sind, aber andere
Infrastrukturen darauf aufbauen und dadurch gefährdet sind.
Viele Sicherheitsstrategien produzieren selbst
Unsicherheit im Hinblick darauf, was die staatlichen Behörden
tun dürfen oder nicht. Für die meisten ist das ein
relativ nachrangiger Begriff von Sicherheit.
Wie sieht denn
ein bürgerrechtlich grundierter Sicherheitsbegriff aus?
Zur Zeit werden Probleme geschaffen, mit denen
sich am Ende wieder die Polizei auseinandersetzen soll. Deshalb
fängt ein bürgerrechtlicher Sicherheitsbegriff bei
der Analyse der Entstehung von gesellschaftlichen Problemen an. Da sich
abweichendes Verhalten und Kriminalität nicht einfach
auflösen läßt, muß man
überlegen, wie das Strafverfolgungssystem aussehen
muß, und dafür sorgen, daß Strafen
verhängt werden, die kriminelle Karrieren nicht
befördern, sondern nach Möglichkeit unterbrechen. Man
muß weiterhin überlegen, wie die Polizei- und
Strafverfolgungsbehörden organisiert sein
müßten, wie die Bürger an der Gestaltung
von Polizeiarbeit beteiligt und die Kommunen angebunden werden
können.
Vor dem
Hintergrund dessen, was sie beschrieben haben: Welche Bilanz ziehen Sie?
Eindeutig eine negative. Obwohl der Rechtsstaat
nicht untergeht, ist der Wandel signifikant. Unter der
Maßgabe des staatlichen Sicherheitsversprechens wird der Raum
bürgerlicher Freiheit weiter erheblich beschränkt,
und eine gegenläufige Tendenz gibt es nicht. Die Mehrzahl
unserer Mitmenschen ist außerdem vollkommen
unbekümmert. Die meisten Menschen stört es nicht,
auch die intimsten Dinge auf dem Handy in der U-Bahn zu besprechen, und
es ist ihnen offenkundig auch egal, wenn staatliche Stellen wissen, wo
sie gerade sind, was sie einkaufen und welche Seiten sie im Internet
besuchen. Deshalb läuft die bürgerrechtliche Kritik
so häufig ins Leere, weil sich die meisten in ihrem Verhalten
von den neuen Befugnissen überhaupt nicht beeinflussen lassen.
Was die Einsicht in die Problematik
darüber hinaus erschwert, ist, daß die meisten
Regelungen nur bei bestimmten Gruppen virulent werden. Und die meisten
gehören nicht zu diesen Gruppen. Ihr Verhalten wird nicht
beeinträchtigt, und ob für sie in der
gegenwärtigen Situation ein realer Freiheitsverlust zu
befürchten ist, wage ich zu bezweifeln. Aber niemand kann
garantieren, daß die Instrumentarien zur
Verbrechensbekämpfung nicht an ganz anderer Stelle angewendet
werden.
Interview: Benno Kirsch