Ermutigung zum Anschein, es gäbe keinen
Bedarf
Zwei Experten über die
Veränderungen in der therapeutischen Versorgung von Kindern
und Jugendlichen

Foto: Knut Hildebrandt
Michaela Holte ist
Vorstandsmitglied vom Legasthenie-Zentrum Berlin e.V. und Uwe Spindler
der Referent für Öffentlichkeitsarbeit. Sie wirken
darauf hin, daß die therapeutische Hilfe für ein
Kind nicht vom Wohnbezirk abhängen kann und die
Kostensätze für die Zusammenhangsarbeit, also
für die Arbeit, die außerhalb des
50-Minuten-Kontakts mit dem Kindern anfallen, nicht unterschiedlich
geregelt werden.
Wie helft ihr Kindern, die wegen schulischen oder
emotionalen Problemen zu euch kommen?
Michaela Holte: Wir haben ein breites
therapeutisches Angebot, über die Behandlung von Lern- und
Leistungsstörungen hinaus wird das gesamte Spektrum
emotionaler, dissozialer und psychosomatischer Störungen
therapiert. Wir richten uns nach der Problemlage des Kindes. Beim
Lösen von Lernblockaden beispielsweise gehen wir sehr
spielerisch vor, indem wir erst mal mit Zahlen und Wörtern
spielen, also auf einer Entwicklungsstufe, die noch gar nicht im
schulischen Bereich liegt. Wir gucken nach den grundlegenden
Schwierigkeiten und versuchen, erst mal Erfolge zu vermitteln, damit
die Kinder wieder Spaß am Lernen haben, und dann kann man
langsam aufbauen.
Gibt es eine direkte Korrelation zwischen
Lese-Rechtschreibschwäche und häuslichen Problemen?
Holte: Studien zufolge haben Kinder mit
Lese-Rechtschreibschwäche später lange noch
Integrationsprobleme, machen einen schlechteren Schulabschluß
und fallen mehr durch Gewalttätigkeit auf. Andersherum kann
man nicht sagen, daß Kinder aus einem schwierigen Zuhause
automatisch eine Lese-Rechtschreibschwäche kriegen.
Schwerpunktmäßig haben wir uns immer um Kinder
gekümmert, die schlechte Bildungsvoraussetzungen mitbringen.
Da gibt es sicherlich eine Korrelation, daß die Kinder, die
nicht ans Lesen herangeführt werden, es tendenziell schwerer
haben. Ganz oft bauen Kinder, die schon früh frustriert
werden, weil sie merken, sie kommen nicht so klar wie andere Kindern,
Blockaden auf. Oder die Kinder sind mit sonstigen Problemen so
überlastet, angefangen von Trennungsfamilien bis hin zu
psychischen oder Drogenproblemen der Eltern, daß sie
schlechte Noten haben. Wir gucken dann immer sehr genau, welche Rolle
diese emotionale Belastung spielt. Wir bieten Lern- und Psychotherapie
und schwerpunktmäßig Psychotherapie mit
Übungsanteilen an.
Seid ihr auch in Kontakt mit den Eltern?
Holte: Das gehört bei Kinder- und
Jugendtherapie auf jeden Fall mit dazu. Die Hilfe zu Erziehung richtet
sich sowieso an die Eltern. Und die Eingliederungshilfe bezieht immer
auch das Umfeld mit ein. Es ist nicht mit der Einstellung getan,
„Ich bringe mein Kind in die Reparaturwerkstatt und hole es
dann wieder ab, wenn es heile ist."
Kann man eure Stellung in der Jugendhilfe als
besonders bezeichnen?
Holte: Ja, das Berliner Konzept, daß
therapeutische gemeinsam mit sozialpädagogischen Hilfen in der
Jugendhilfe in einem Paket zu haben sind, gibt es nicht in allen
Bundesländern. Dafür wurde lange gekämpft.
Wir sind also nicht bei den Krankenkassen untergebracht, die nach dem
Krank-Gesund-Schema handeln. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz geht
nicht vom Verständnis aus, das Kind ist krank und
muß gesund gemacht werden, sondern eröffnet dem Kind
und seiner Familie neue Entwicklungsmöglichkeiten. Die
Bedingungen, unter denen die Hilfe geleistet werden kann, ist
einerseits über das achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII) und
andererseits über einen Rahmenvertrag geregelt.
Und dieser Rahmenvertrag wurde zum 1. Januar 2007
geändert.
Holte: Bisher wurden Fachleistungsstunden
bewilligt, in denen eine Einheit für die Lerntherapie mit 90
Minuten und für die Psychotherapie mit 80 Minuten berechnet
wurde, und in denen die Zusammenhangsarbeit enthalten war. Zum 1.
Januar wurden die Stunden auf je 60 Minuten vereinheitlicht. Die
Verhandlungskommission hat uns das so verkauft, als würde nur
eine organisatorische Größe umgerechnet werden. Aber
de facto versuchen die Bezirke darüber einzusparen. So
muß die Zusammenhangsarbeit nun gesondert beantragt werden.
Uwe Spindler: Einige Bezirke haben den Umstand,
daß wichtige Teile der Vereinbarung nicht in der
Rahmenleistungsvereinbarung festgeschrieben sind, sondern in einem
unverbindlichen Senatsrundschreiben ausgeführt werden, dazu
genutzt, Kürzungen durchzusetzen.
Holte: In der Vergangenheit gab es
Ausführungsvorschriften zu den Gesetzen, die bindend waren.
Das wurde jetzt bewußt unterlassen, obwohl uns signalisiert
wurde, das Rundschreiben sei bindend.
Spindler: Kürzungen finden in erster
Linie nicht beim Klientel, sondern bei den Trägern statt. Die
Kinder bekommen im großen und ganzen in gehabtem Umfang ihre
Therapiestunden.
Holte: Was so nicht stimmt. Seit Berlin
Haushaltsschwierigkeiten hat, gab es immer wieder Kürzungen.
Obwohl jede Familie einen individuellen Anspruch hat, wurde
über die letzten Jahre schon auf informeller Ebene versucht,
Regelkontingente durchzusetzen. Diese erlauben es nicht mehr,
wöchentlich zweimal zu arbeiten.
Spindler: Wenn der Bezirk eine Weisung rausgeben
würde, „es gibt nicht mehr als hundert Stunden",
wäre das rechtswidrig, denn laut SBG VIII ist diese Hilfe ein
einklagbarer Individualanspruch. Die Hilfe darf nicht an
Regelkontingenten, sondern muß am Bedarf der Kinder und
Jugendlichen ausgerichtet werden, der in Jugendhilfekonferenzen
festgelegt wird. Daher gibt es keine offiziellen Weisungen in diese
Richtung.
Holte: Die Familien sind oft nicht in der Lage,
ihr Recht einzuklagen. Emotional und psychisch nicht. Eigentlich
müßte die Jugendhilfe die Eltern bei der
Antragstellung unterstützen. Wenn das unterbleibt oder
Familien sogar entmutigt werden, stellen sie den Antrag nicht, und es
ergibt sich der Anschein, es gäbe keinen Bedarf.
Spindler: Wir haben die letzten Verträge
erst im Mai 2005 mit der Senatsverwaltung unterschrieben. Da war das
alles unter Dach und Fach. Ein Jahr später haben sie
angefangen, alles neu zu regeln. Intendiert war eine berlinweite
Vereinheitlichung. Aber bestimmte Fakten sind nicht fest in die
Verträge geschrieben worden, was jetzt dazu führt,
das jeder Bezirk das macht, was er meint. Alles, was
außerhalb dieser 50-Minuten-Arbeit mit dem Klienten liegt,
wird von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich gehandhabt. In Kreuzberg
beispielsweise werden pauschal 15 Stunden für
Zusammenhangsarbeiten bewilligt, ganz egal, ob die Therapie
einstündig die Woche oder zweistündig ist. D.h. je
länger der Umfang der Therapie, desto geringer sind prozentual
die nichtpersonenbezogenen Tätigkeiten. Andere Bezirke halten
sich an die Umrechnung, da gibt es bis zu 30 Prozent auf die
Gesamtleistung. Was dann dazu führt, daß es von
Bezirk zu Bezirk eine unterschiedlich bezahlte Tätigkeit gibt.
Holte: Und ein Kind von Bezirk zu Bezirk eine ganz
andere Leistung bewilligt bekommt.
Seid ihr in ganz Berlin vertreten?
Spindler: Die Ostbezirke sind nach wie vor
unterrepräsentiert. Dort haben wir Legastheniezentren in
Prenzlauer Berg und Friedrichshain.
Inwieweit bewilligen die Bezirke unterschiedlich?
Spindler: In Hellersdorf-Marzahn werden wenige bis
keine ambulanten Psychotherapien bewilligt. In Pankow sind es auch
wenige, während es in Kreuzberg sehr viele gibt. Trotz
Doppelbezirk gibt es in Friedrichshain
verhältnismäßig weniger Bewilligungen.
Holte: Die Schwierigkeit in den Ostbezirken, Hilfe
bei Legasthenie oder Rechenschwäche bewilligt zu bekommen, hat
vermutlich historische Gründe. Das Legastheniezentrum Berlin
e.V. entstammt der Studentenbewegung an der FU, wo sich Studenten und
Psychologen dafür stark gemacht haben, daß
Psychotherapie in der Jugendhilfe eine Bedeutung bekommt. Von daher
haben wir es in den Westbezirken einfacher, obwohl wir auch
beispielsweise in Spandau viele Therapeuten entlassen mußten,
weil es drastisch weniger Bewilligungen gab. 35 Jahre lang sind unsere
Beziehungen zu den Schulen, Jugendämtern, Fachdiensten und
weiteren Therapeuten gewachsen. In den Ostbezirken ist es schwer,
Zentren zu öffnen und zu halten, wenn es keine Bewilligungen
gibt. Dort hatte die Psychotherapie in der Jugendhilfe nicht so eine
Verbreitung gefunden, sie wurde lange als Kassenleistung verstanden.
Aber die Krankenkassen übernehmen keine Lerntherapie, weil
Lese-Rechtschreib- und Rechenschwäche keinen Krankheitswert
haben.
Spindler: Es ist schon ein Feld für die
Zukunft, das wir bearbeiten. Wir wirken darauf hin, daß die
Hilfe für ein Kind nicht davon abhängen kann, in
welchem Bezirk es wohnt. Es ist sowohl von Senatsseite wie auch von
Seiten der Wohlfahrtsverbände immer noch gewollt,
daß diese Therapieformen Bestandteil der Jugendhilfe bleiben.
Es stand öfter zur Diskussion, die Lerntherapie
auszuschließen, aber das ist mit der Neuregelung zum
Glück wieder nicht passiert. Also eine schizophrene Situation:
Viele wollen, daß die ambulante therapeutische Hilfe beim
Jugendamt bleibt, aber auf der anderen Seite wird sie
zusammengestrichen und eingedampft.
Interview: Sonja John