Ausgabe 05 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Jung, männlich, kinderlos

Studenten verlieren an Flexibilität

Internationalisierung und Harmonisierung der Hochschulabschlüsse lauten die Stichworte jenes Studienreformvorhabens namens Bologna-Prozeß, bei dem nach und nach die aufeinander aufbauenden Studienabschnitte Bachelor, Master und Promotion zum Standardgerüst eines jeden Studiengangs in der EU werden sollen. Diplom und Magister werden dabei abgeschafft. Die Humboldt-Universität, in ihrem Bestreben, in den Reigen der heranreifenden bundesdeutschen Eliteuniversitäten einzutreten, gilt als eine Vorreiterin in der Umsetzung dieser Studienreform. Daß sie aus der Sicht der Studierenden allerdings zu alles anderem als harmonischen Studienbedingungen geführt hat, zeigen die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, die eine Projektgruppe engagierter Studenten durchgeführt und ausgewertet hat.

Im Vergleich zu den alten Diplom- und Magisterstudiengängen wird mit den Bachelor- und Masterprogrammen deutlicher auf feste Studienpläne, erhöhtes Arbeitspensum und die Kontrolle der Studienleistungen gesetzt. Wo es früher möglich war, das Studium je nach Lebenssituation zu straffen oder zu dehnen, sind die als Orientierungsmaßstab eingeführten Regelstudienzeiten nun zu festen Obergrenzen geworden. Dies trifft besonders all jene Studierende, die neben dem Studium anderen Beschäftigungen nachgehen, also z.B. der Erwerbsarbeit, der Betreuung von Kindern oder der Pflege von Familienangehörigen, oder die aufgrund ihrer körperlichen oder seelischen Verfassung nicht dem Maßstab des Normstudenten entsprechen.

Die Umfrage der Projektgruppe Studierbarkeit hat nun ergeben, daß zwei Drittel der Studenten Lebensumstände angeben, die eine Belastung für das Studium darstellen, darunter auch viele Mehrfachbelastungen. Im Hauptstudium z.B. sind 78% berufstätig, 8% chronisch krank, 4% pflegen Angehörige und 8% haben Kinder. Weit mehr als die Hälfte aller Befragten geht davon aus, daß sie wegen solcher Belastungen die vorgesehene Regelstudienzeit nicht einhalten kann.

Unter diesen Bedingungen bedeutet ein Studium, das die volle Aufmerksamkeit und Kraft der Studenten beansprucht und wenig Flexibilität bietet, im Endeffekt eine Schlechterstellung eines Großteils der Studenten. Da mittlerweile für abgebrochene Seminare, Überschreitung der Regelstudienzeit u.ä. sogenannte Maluspunkte gesammelt werden, müssen außeruniversitär belastete Studenten doppelt mit Nachteilen rechnen: Sie haben einerseits weniger Zeit, sich angesichts einer zunehmenden Fülle kleiner Hausaufgaben und Kontrollklausuren dem eigentlichen Sinn des Studiums, dem Lernen und der wissenschaftlichen Arbeit, zu widmen und drohen daher schlechter benotet zu werden. Andererseits drohen die Maluspunkte die Abschlußnote weiter zu drücken.

Rose-Marie Seggelke, die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Berlin, fordert in Reaktion auf die Umfrage, daß die neuen Studiengänge auch in Teilzeit studierbar sein müßten. „Nur so läßt sich verhindern, daß der Prototyp des Studierenden jung, männlich, aus gutem Hause und kinderlos wird", so Seggelke.

Muß man nun annehmen, daß eine Studienreform an einer Möchtegern-Eliteuniversität wie der HU zielgerichtet dazu genutzt wurde, zunächst all jene Studenten zu fördern und anzutreiben, die den allerbesten sozialen Voraussetzungen unterliegen, und einen gleichberechtigten Zugang zur Bildung demgegenüber hintanzustellen? Doch auch wenn dies prächtig zum Elitegedanken paßte, mag die Universitätsleitung sich diesen Schuh dennoch nicht anziehen. Die studentische Projektgruppe berichtete, daß in ersten Gesprächen mit dem Präsidium der HU von diesem „handwerkliche Fehler" bei der Umsetzung der Studienreform eingeräumt worden seien.

Immerhin ergab die Untersuchung auch, daß mit der Studienreform bezweckte Ziele wie eine verbesserte Beratung und Betreuung der Studierenden ebenfalls nicht erreicht worden seien. Das Bachelor-Master-System, das eine Vereinheitlichung des europäischen Studiums bezwecken sollte, scheitert darüber hinaus bereits vor Ort: Schon die Kombination zweier Fächer an ein und der selben Universität wird den befragten Studenten zufolge aufgrund der starren Studienpläne zu einer kaum zu bewältigenden Aufgabe.

So kommt die Projektgruppe Studierbarkeit auch zu einem durchaus zwiespältigen Ergebnis: Einerseits beruhten viele Probleme auf einer zu eiligen Umsetzung der Studienreform an der Humboldt-Universität und könnten im Rahmen der Gestaltungsspielräume vor Ort wieder behoben werden. Andererseits seien die Befunde nicht HU-spezifisch, sondern seien auch an vielen anderen Universitäten anzutreffen ­ sie seien struktureller Natur. Damit wird klar, daß die Studienreform selbst einen Großteil der Probleme verschuldet hat.

Mittlerweile haben engagierte Studenten einer Reihe weiterer bundesdeutscher Universitäten Interesse am Zuschnitt der HU-Umfrage bekundet: Sie wollen sie ebenfalls an ihren Unis durchführen. Wir dürfen also gespannt auf weitere Ergebnisse sein und darauf, ob sie schließlich zu einer Reform der Reform führen mögen. 

Tobias Höpner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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