Körper und Seele
Heilpraktiker werden weiterhin produziert
Heilpraktiker sind der Renner. Bereits seit Jahren. Wenn
der Arzt die Beschwerden nicht lindern kann, wird schnell nach einem
Heilpraktiker gefahndet. Einen zu finden, stellt in Berlin kein Problem
dar, außer man wohnt in den östlichsten Bezirken.
„Diese sind bisher noch unterversorgt", weiß Gyde Eichler,
Heilpraktikerin und Homöopathie-Lehrerin.
Um Ärztin zu werden, fing sie zunächst mit dem
Studium der Psychologie und Medizin an, aber war von den Ansätzen
enttäuscht. „Sie bieten kaum Antworten, sondern nur die Wahl
zwischen Operation und Antibiotika." Die Studiengänge findet sie
fatal und das Menschenbild ziemlich komisch. Selbst in der Psychologie
lernte sie wenig über Menschen, sondern zumeist Statistik. Mit der
Heilpraktik kam sie das erste Mal in ihrer WG in einem besetzten Haus
in Berührung. Als sie sich mit der Mitbewohnerin über diese
Heilansätze austauschte, wußte sie, was sie machen will.
„Heilpraktik bringt körperliche und seelische bzw.
spirituelle Elemente zusammen. Ich hatte das erste Mal Gefühl,
Lösungen geboten zu bekommen und nicht hilflos zu sein."
Dreieinhalb Jahre besuchte sie die Kreuzberger
Heilpraktikschule in Selbstverwaltung, an der sie nun selber
unterrichtet. Die Ausbildung besteht aus zwei Teilen. Zum einen lernt
man den Stoff der Schulmedizin, der in der Amtsarztprüfung
abgefragt wird: Diagnostik, Psychologie und Anatomie. Zum anderen
wählen die Schüler aus dem Angebot der verschiedenen
Therapiefächer diejenigen Ansätze, mit denen sie später
arbeiten wollen: Homöopathie, Körperarbeit, traditionelle
chinesische Medizin, Pflanzenheilkunde. Gyde Eichler hat sich auf
Homöopathie spezialisiert. Sie war von dieser geistigen
Heilmethode fasziniert, die ihrer Meinung nach am besten wirkt.
Vorausgesetzt, man findet aus den über 2000 Mitteln das richtige.
„Alle auf dem Kasten zu haben ist nicht so einfach." Diese
Heilmethode will verstehen, wieso sich die Krankheit bei dem Menschen
niedergeschlagen hat. Der Heilpraktiker guckt sich die Psyche, die
Träume an, versucht, die Person vom Grundkern zu erfassen.
„Krank wird man an einer bestimmten Stelle des Lebens, an der
sich der Organismus falsch gepolt hat und nicht mehr selber
herausfindet. Da setzen wir an, und die Beschwerde verliert den
Anlaß." So kann sie einem Patienten, der unter Neurodermitis und
depressiven Neigungen leidet, seitdem er sich getrennt hat, ein Mittel
gegen Trennungsschmerz geben. Kummer sei in dieser Lebenslage zwar zu
einem Maße gesund, aber nicht, wenn einer in dem Trennungsschmerz
stekken bleibt.
Seit Jahren führt sie ihre eigene Praxis in
Friedrichshain und zieht demnächst in größere
Praxisräume um. Obwohl die Schule immer Wartelisten hat und Jahr
für Jahr neue Heilpraktiker „produziert", gibt es in Berlin
kein Überangebot. Der Markt wächst prozentual mit. „Es
gibt kaum Eltern, die ihre Kinder nicht zum Heilpraktiker bringen.
Viele Eltern zahlen gerne für das Kind, auch wenn sie es sich
für sich selber zunächst nicht leisten wollen." Die
Privatversicherungen übernehmen Heilpraktikerkosten anstandslos,
die Zusatzversicherungen in der Regel achtzig Prozent, während die
Gesetzlichen gar nichts zahlen.
Häufige Beschwerden, wegen derer Menschen einen
Heilpraktiker aufsuchen, sind Migräne, Asthma, Allergien,
Neurodermitis oder Tinnitus. Gerade in der Stadt gibt es eine deutlich
höhere Neigung zu Hautkrankheiten und Allergien, deren
Behandlungsgrenzen irgendwann erreicht sind. Gyde Eichler ist
erschrocken über die vielen Kleinkinder, die schon ab einem halben
Jahr unter schlimmer Neurodermitis leiden. Die klassischen
Stadtkrankheiten, Bewältigungsstreß, Rückenbeschwerden
durch zu wenig Bewegung und viel Arbeit im Sitzen, sind hier weit
häufiger als auf dem Land.
Die Gesamtbelastung durch schlechte Luft, Lärm und
Streß kriegt sie in ihrem Berufsleben täglich zu
spüren. Und natürlich auch privat. Ein Grund, ins Berliner
Umland zu ziehen. Sie selber geht nie zum Arzt, höchstens zum
Zahnarzt. „Ich bin gesund." Wenn, dann würde sie auch zu
einem Heilpraktiker gehen, denn selber behandeln kann man sich nicht.
„Weil man sich nicht selber schnallt. Wenn man wüßte,
was falsch läuft, wäre man gesund."
Sonja John