Ausgabe 04 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

agit 883

Eine versunkene Blüte der Zeitungslandschaft

Viele haben von ihr gehört, aber die wenigsten haben sie in der Hand gehalten: Die Berliner Zeitung agit 883. Als Medium der Gegenöffentlichkeit strahlte sie in den Jahren 1969 bis 1972 weit in die Bundesrepublik aus. agit 883 war das auflagenstärkste Organ des parteiunabhängigen Linksradikalismus jener Tage. Teilweise hatte sie eine wöchentliche verkaufte Auflage von 10000 Exemplaren. Die Redaktionsräume der Zeitung waren der Ort von Begegnungen und lautstarker, zum Teil handgreiflich ausgetragenen Konfrontationen innerhalb des linken Spektrums: Anarchisten trafen hier auf Maoisten, Antiimperialisten waren mit engagierten Mitgliedern von Basisgruppen konfrontiert, Sozialisten versuchten sich einen Reim auf Hasch- und Wermutrebellen sowie rote Bauarbeiter zu machen. Musiker verfolgten die Redaktionsdebatten genauso wie angehende Journalisten.

In den öffentlichen Redaktionstreffen der agit 883, deren Namen aus den letzten drei Ziffern der Redaktionstelefonnummer herrührte, verdichtete sich, was die Linke jener Tage in Szenelokalitäten, Kommunen und Wohngemeinschaften geredet, nachgedacht und nächtelang diskutiert hatte. Rund 250 politische Gruppen nutzten die Zeitung ­ sie sprengte die zuvor überwiegend verbandsförmig bestimmte Öffentlichkeit der Studentenbewegung. agit 883 kann als Spiegelbild eines Neuzusammensetzungs- und Suchprozesses der radikalen Linken in den Jahren 1969/70 gelten. Die Zeitung war nicht nur theoretisches Medium, sondern visualisierte das vibrierende Lebensgefühl der Linken in Berlin. agit 883 war mit dem durcheinander gewirbelten Layout und in der Sprache in irritierender Weise anders.

Doch für viele, deren politischer Weg erst Mitte der 1970er Jahre begonnen hatte, war die agit 883 schon zum Mythos geworden. Weggeschlossen in Privatarchiven und Bibliotheken von Forschungsinstituten war die Zeitung den meisten nicht mehr zugänglich. Ein Reprint dieser Zeitung hat es nie gegeben ­ vielleicht auch deswegen, weil die agit 883 vom Staat wie kaum ein anderes Organ der Linken verfolgt wurde. Razzien in den Redaktionsräumen und bei Redakteuren, Beschlagnahmungen ganzer Auflagen bis hin zu Prozessen gegen die Drucker der agit 883 haben die Zeitung von ihrem Anfang bis zum Ende begleitet.

Das 2006 erschienene Buch agit 883 ­ Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972, herausgegeben von rotaprint 25, widmet sich nun dieser einzigartigen Zeitung aus der Rückschau. Zum einen geben die Herausgeber ­ der Kollektivname „rotaprint 25" nimmt die Bezeichnung der Offsetdruckmaschine auf, mit der die agit 883 gedruckt wurde ­ in einer sehr informativen Einleitung einen Einblick in den politisch-subkulturellen Sumpf in Berlin Ende der 1960er Jahre, dessen schillerndste Blüte diese Zeitung war. Zum anderen setzen sich die meisten Beiträge in dem Sammelband kritisch bis distanziert-amüsiert mit der Art und Weise auseinander, wie die radikale Linke vor 36 Jahren z.B. Internationalismus, Rassismus, Imperialismus oder nationale Befreiungsbewegungen und bewaffneten Kampf diskutierte. Und wer schließlich einen Eindruck vom Original bekommen will, dem präsentiert das Buch ein richtiges Highlight: Auf einer beigelegten CD-ROM wurden alle verfügbaren Nummern der agit 883 erfaßt.

Das Buch wird von Hartmut Rübner, einem der Herausgeber, nun Anfang Mai vorgestellt. Warum man unbedingt hingehen sollte? Weil die Publikation inzwischen vergiffen ist. Der Verlag Assoziation A denkt aber über eine Neuauflage nach.

Sabine Schuster

Am 4. Mai um 19 Uhr in der Bibliothek der Freien, Anarchistische Bücherei im Haus der Demokratie, Greifswalder Str. 4, 2. Hof, Raum 1102

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