agit 883
Eine versunkene Blüte der Zeitungslandschaft
Viele haben von ihr gehört, aber die wenigsten
haben sie in der Hand gehalten: Die Berliner Zeitung agit 883. Als
Medium der Gegenöffentlichkeit strahlte sie in den Jahren 1969 bis
1972 weit in die Bundesrepublik aus. agit 883 war das
auflagenstärkste Organ des parteiunabhängigen
Linksradikalismus jener Tage. Teilweise hatte sie eine
wöchentliche verkaufte Auflage von 10000 Exemplaren. Die
Redaktionsräume der Zeitung waren der Ort von Begegnungen und
lautstarker, zum Teil handgreiflich ausgetragenen Konfrontationen
innerhalb des linken Spektrums: Anarchisten trafen hier auf Maoisten,
Antiimperialisten waren mit engagierten Mitgliedern von Basisgruppen
konfrontiert, Sozialisten versuchten sich einen Reim auf Hasch- und
Wermutrebellen sowie rote Bauarbeiter zu machen. Musiker verfolgten die
Redaktionsdebatten genauso wie angehende Journalisten.
In den öffentlichen Redaktionstreffen der agit 883,
deren Namen aus den letzten drei Ziffern der Redaktionstelefonnummer
herrührte, verdichtete sich, was die Linke jener Tage in
Szenelokalitäten, Kommunen und Wohngemeinschaften geredet,
nachgedacht und nächtelang diskutiert hatte. Rund 250 politische
Gruppen nutzten die Zeitung sie sprengte die zuvor
überwiegend verbandsförmig bestimmte Öffentlichkeit der
Studentenbewegung. agit 883 kann als Spiegelbild eines
Neuzusammensetzungs- und Suchprozesses der radikalen Linken in den
Jahren 1969/70 gelten. Die Zeitung war nicht nur theoretisches Medium,
sondern visualisierte das vibrierende Lebensgefühl der Linken in
Berlin. agit 883 war mit dem durcheinander gewirbelten Layout und in
der Sprache in irritierender Weise anders.
Doch für viele, deren politischer Weg erst Mitte
der 1970er Jahre begonnen hatte, war die agit 883 schon zum Mythos
geworden. Weggeschlossen in Privatarchiven und Bibliotheken von
Forschungsinstituten war die Zeitung den meisten nicht mehr
zugänglich. Ein Reprint dieser Zeitung hat es nie gegeben
vielleicht auch deswegen, weil die agit 883 vom Staat wie kaum ein
anderes Organ der Linken verfolgt wurde. Razzien in den
Redaktionsräumen und bei Redakteuren, Beschlagnahmungen ganzer
Auflagen bis hin zu Prozessen gegen die Drucker der agit 883 haben die
Zeitung von ihrem Anfang bis zum Ende begleitet.
Das 2006 erschienene Buch agit 883 Bewegung,
Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972, herausgegeben von
rotaprint 25, widmet sich nun dieser einzigartigen Zeitung aus der
Rückschau. Zum einen geben die Herausgeber der Kollektivname
„rotaprint 25" nimmt die Bezeichnung der Offsetdruckmaschine auf,
mit der die agit 883 gedruckt wurde in einer sehr informativen
Einleitung einen Einblick in den politisch-subkulturellen Sumpf in
Berlin Ende der 1960er Jahre, dessen schillerndste Blüte diese
Zeitung war. Zum anderen setzen sich die meisten Beiträge in dem
Sammelband kritisch bis distanziert-amüsiert mit der Art und Weise
auseinander, wie die radikale Linke vor 36 Jahren z.B.
Internationalismus, Rassismus, Imperialismus oder nationale
Befreiungsbewegungen und bewaffneten Kampf diskutierte. Und wer
schließlich einen Eindruck vom Original bekommen will, dem
präsentiert das Buch ein richtiges Highlight: Auf einer
beigelegten CD-ROM wurden alle verfügbaren Nummern der agit 883
erfaßt.
Das Buch wird von Hartmut Rübner, einem der
Herausgeber, nun Anfang Mai vorgestellt. Warum man unbedingt hingehen
sollte? Weil die Publikation inzwischen vergiffen ist. Der Verlag
Assoziation A denkt aber über eine Neuauflage nach.
Sabine Schuster
Am 4. Mai um 19 Uhr in der Bibliothek der Freien,
Anarchistische Bücherei im Haus der Demokratie, Greifswalder Str.
4, 2. Hof, Raum 1102