Ausgabe 04 - 2007 berliner stadtzeitung
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Ich bin ein Berliner

Das Jahr 1977 war für beide deutsche Länder politisch brisant: Ausreise- und Selbstmordwelle im Osten, RAF-Terror im Westen. In diesem bedeutsamen Jahr haben sie das Licht der Welt erblickt: 18 Berlinerinnen und Berliner, mit oder ohne Migrationshintergrund, hineingeboren in eine geteilte Stadt in einem geteilten Land. In der autobiographischen Dokumentation 30 Jahre Berlin erzählen sie aus ihrem Leben. Ob Mauerfall oder Krawalle am 1. Mai, die kleinen und großen historischen Ereignisse vor der eigenen Haustür. Thematisch ist fast alles vertreten, was das Leben in Berlin ausmachen kann: Drogen, autonome Szene, Häuserbesetzungen, offener und versteckter Rassismus, fehlende Elternliebe und Kinderheim, psychische Krankheit, verhinderte und erfolgreiche Karrieren. Nur die Stasi-Debatte und Berichte über Bespitzelungen in der eigenen Familie fehlen. Besonders beeindruckend ist die Vita der türkischen „Gastarbeiterkinder". Der passionierte Kreuzberger Adnan hat es trotz vieler Hürden aus der Integrationsklasse zum Akademiker gebracht. Ergün schaffte den Karrieresprung vom Berliner Fußballverein Türkiyemspor in die erste Bundesliga der Türkei. Die Kosmopolitin Arzu arbeitet für die Vereinten Nationen in New York und will später im Wedding Schüler mit Migrationshintergrund bei der Integration in soziale Netzwerke unterstützen.

Brigitte aus Mitte erlebte nach der Wende einen „Kolonialisierungsschock". Skeptisch betrachtet sie die Veränderungen an den Orten ihrer Kindheit.

Neben der bewegten Vergangenheit beleuchtet die Dokumentation auch Probleme der Berliner Gegenwart: Arzu hat einen Top-Job in den USA, weil Posten für Akademiker in der deutschen Hauptstadt leider Mangelware sind. Auch die Kriminalkommissarin Susanne hat ihre beruflichen Grenzen erkannt: „Mit der Beförderung klappt es nicht mehr, seitdem es so wenige Stellen in Berlin gibt." Ihr kritischer Blick fällt auch auf unerfreuliche Tendenzen im Beruf: „Wir leben in einem Rechtsstaat. Ich zumindest. Bei den anderen ist es manchmal nicht so".

Völlig unterschiedliche Lebensläufe also, und alle zusammen ergeben das große Puzzle „Leben im alltäglichen Berlin". Vor allen Dingen ist das Buch aber auch eine Liebeserklärung an die Stadt an der Spree. Andrea Winter

Sonja John: 30 Jahre Berlin. 18 echte Berliner des Jahrgangs 1977 erzählen aus ihrer Geschichte. pidi verlag 2007. 9,95 Euro.

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