Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Jenseits der eindimensionalen ökonomischen Verwertungslogik

Der Berliner Philosoph Hans Poser hat den Begriff der Technodizee entwickelt

Technik dient dem Menschen zur Erweiterung seiner Handlungsspielräume, kurz: zur Vergrößerung seiner Freiheit. Doch Technik enthält potentielles Übel: Flugzeugabstürze, Autounfälle oder Störungen in Kernkraftwerken machen deutlich, welchen Preis wir für den Freiheitszuwachs zahlen. Auch die immer düsteren Langzeitprognosen zu Umweltverschmutzung und Klimawandel zeigen, daß es eine existentielle Frage ist, inwieweit wir von Technik Gebrauch machen. Technik ist also „Wohl" und „Übel" zugleich. Damit weist Technik die gleiche Ambivalenz von „gut" und „böse" auf, wie sie menschlichen Handlungen allgemein und auch der Natur eigen ist.

Früher, als noch die Mehrheit der Menschen an Gott glaubte, stellte sich angesichts des Übels der Sünde (malum morale) und des Übels in Gestalt von Naturkatastrophen (malum physicum) die Frage nach der Rechtfertigung eines gütigen, allwissenden und allmächtigen Gottes. Gottfried Wilhelm Leibniz unternimmt in seiner Theodizee (1710) den Versuch, die Freiheit des Menschen und die Güte Gottes angesichts des Übels in Einklang zu bringen. Nach Leibniz schuf Gott die „beste aller möglichen Welten". Die Unterscheidung möglicher Welten von der im Schöpfungsakt tatsächlich zur Existenz gebrachten Welt, in der wir leben und manchmal eben auch leiden, schafft den metaphysischen Raum für den genialen Gedanken einer Vorhersicht Gottes, die nicht in Determination mündet, sondern Freiheit zuläßt, die uns nicht ein Programm abspulen läßt, sondern unsere Entfaltung will ­ die moralische Verfehlung eingeschlossen. Damit hat Gott in der Welt nicht alles gut gemacht, sondern nur so gut wie möglich, also gerade so gut, daß der Mensch ein freies Wesen bleibt.

Nach der „Entzauberung der Welt" stellt sich für die meisten Menschen die Frage anders: In einer Welt der vollständigen Technisierung wird nicht mehr der Schöpfer-Gott vor Gericht gestellt und zu rechtfertigen versucht, sondern der Mensch als „Schöpfer der Technik". Der Berliner Philosoph Hans Poser hat dafür den Begriff Technodizee geprägt. In Analogie zu Leibnizens Argumentation in der Theodizee entwickelt Poser den Gedanken, daß das Übel unserer Zeit das malum technologicum sei, d.h. die Möglichkeit der Einschränkung menschlicher Freiheit durch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und die ständig virulente Gefahr von Katastrophen als Ergebnis von Technik. Kurz: Die Technik, die wir schufen, um freier zu werden, schränkt uns zunehmend ein.

Die Argumentation bei Leibniz läuft über drei Ebenen: 1. die der Möglichkeit, also: Gott wählt aus den Möglichkeiten die beste aus, 2. die der Verantwortung Gottes für die erschaffene Welt und 3. die der Wertung, d.h. es muß klar sein, was „gut" und was „böse" bedeutet. Und diese Ebenen, so Poser, finden sich auch im Technikdiskurs wieder.

Zunächst geht es um den „Ermöglichungsgrund einer besseren Welt" (Poser). Es gibt drei Varianten des Technikgeneseverständnisses, die jeweils einen anderen modalen Status haben. Zum einen kann der Ingenieur als derjenige angesehen werden, der an die Stelle des Schöpfergottes tritt, der aus einem Ideenreich die beste Möglichkeit für eine Maschine o.ä. identifiziert, auswählt und konstruiert, so wie Gott aus den möglichen Welten die beste identifiziert und erschaffen hat. Zum anderen kann man sich vorstellen, daß Technikentwicklung quasi automatisch abläuft, unabhängig vom Menschen. Dieses Nichtsteuerbarkeitspostulat wird von einer technikkritischen Richtung vertreten. Die dritte Variante geht davon aus, daß Technik von allen Menschen geschaffen wird. Zum einen liege die Technikgenese nicht in den Händen eines Einzelnen (des „Schöpfer-Ingenieurs"), zum anderen entstehe und entwickele sich Technik aber auch nicht „einfach so". Vielmehr verlange die Gesellschaft nach technischen Lösungen, und Menschen aus dieser Gesellschaft befriedigten diese Bedürfnisse zum Wohle aller. Das mögliche Übel, das Technik mit sich bringt, wird hierbei nicht als Hemmnis betrachtet, welches die Reduktion von Technik nahelegt, sondern als Aufforderung zu mehr und besserer Technik.

Ferner muß sich Gott in Leibnizens Theodizee für die von ihm geschaffene Welt angesichts des in ihr spürbaren Übels vor der menschlichen Vernunft verantworten. Dieses Verständnis von Verantwortung, übertragen auf die Technodizee, führt zu der Formel, daß sich der Mensch vor dem Menschen für die Schaffung und den Gebrauch von Technik verantworten muß. Unterstellt, daß Technik weder die einsame Schöpfung eines Ingenieurs und auch nicht ein sich verselbständigender Prozeß ist, sondern gesellschaftlich generiert wird, geht es in der Technodizee also mehr um die Mitverantwortung aller Akteure, also auch der Konsumenten, die bestimmte Technik wollen, als um die Generalverantwortung eines einzelnen Ingenieurs.

Die Frage nach der Bedeutung von „gut" und „böse" ist in der Theodizee Leibnizens klar. Es herrscht das Prinzip des Besten, das Gott veranlaßt, ein Maximum an Ordnung in die Realität zu setzen, was ein Maximum an Harmonie und Vollkommenheit in der Welt bedeutet. Was aber ist das Prinzip des Besten in der Technik? Hier gibt es aufgrund der unterschiedlichen Interessen der am gesellschaftlichen Geneseprozeß beteiligten Akteure auch unterschiedliche Gütevorstellungen: Dem Ingenieur geht es um Funktionalität, dem Aktionär um Wirtschaftlichkeit, dem Gewerkschafter um Sozialverträglichkeit, dem Kunden um Freude bei der Anwendung. Ferner stellt sich das Problem der Abschätzung von Folgen: Das Prinzip des Besten in der Technodizee ist an den Wissensstand des endlichen Wesens Mensch gebunden, hat also nicht die unendliche praevisio Gottes im Rücken, die Leibniz in der Theodizee unterstellt.

Was bedeutet dies nun für den Technikdiskurs? Die Strukturanalogie von Theodizee und Technodizee legt im Ergebnis nahe, nach bestem Wissen und Gewissen eine Bewertung von Technik jenseits der eindimensionalen ökonomischen Verwertungslogik vorzunehmen und nach einer Antwort auf die Frage nach „gut" und „böse" für den Menschen zu suchen. Nur eine solche Technik ist gerechtfertigt, bei der die sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Folgen berücksichtigt sind. Die Strukturanalogie gebietet ferner, die für die Technikgenese Zuständigen ­ und das sind wir alle ­ stärker in die Verantwortung zu nehmen mit dem Ziel, künftiges Technik-Übel zu verhindern, insbesondere die schleichende Katastrophe des Klimawandels.

Josef Bordat

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 10 - 2006 © scheinschlag 2006