Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Vergessene Schätze

Normalerweise geht es hier darum, mehr oder weniger aktuelle CDs zu besprechen. Manchmal tauchen aus der Tiefe des CD-Stapels aber auch vergessene Schätze auf, die, obwohl schon vor einem Jahr erschienen, nun unbedingt noch besprochen werden müssen. So auch die erstaunliche und zugleich wunderschöne Notwithstanding (Hobby Industries) von Blichi. Notwithstanding heißt nichtsdestotrotz, und das paßt in diesem Fall ganz gut. Zumal die Aufnahmen zwischen Novemberblues im sanften Elektroland und coolen Scratcheinlagen futurologischer Jazzer schwanken. Dazu kommen Gesangseinlagen, die entfernt an Portishead erinnern. Getragen und überlagert ist das Ganze immer von den klassischen Knarz- und Knispersounds, wie sie zum festen Repertoire elektronischer Minimalmusik gehören. Das alles ist so fein und stilsicher aufeinander abgestimmt, daß – nichtsdestotrotz – eine harmonische Konstruktion von großer Abwechslung entsteht.

Nicht vergessen, wohl aber vergriffen, waren lange die Vinylveröffentlichungen von To Rococo Rot. Die Kompilation Taken From Vinyl (Staubgold) versammelt nun eine Auswahl dieser raren Stücke, die größtenteils als Gastbeiträge für andere Labels produziert wurden. Ähnlich wie Bichi verhält sich auch das Berlin-Düsseldorfer Projekt To Rococo Rot zum Referenzsystem Pop ­ es unter- und überschreitet Grenzen. Flächiges wird von Geräuschen gebrochen, Melodien überlagern sich und kristallisieren sich in einem Wiederholungsmodus. So wird die Musik wie der Bandname selbst zum Palindrom: Aus Vorwärts wird Rückwärts, Melodie wird zum Geräusch und umgekehrt. Deswegen macht es Sinn, daß Taken From Vinyl zwar auf CD erscheint, die meisten Stücke aber trotzdem von Schallplatte gemastert wurden, um eine Spur des Vinylsounds zu erhalten.

Bei der Berliner Band Contriva hingegen ist das neue Album Separate Chambers (Morr Music) an sich erstaunlich genug, sind doch alle Mitglieder noch in diversen anderen Solo- und Bandprojekten tätig, daß sich die Frage stellt, woher sie eigentlich die Zeit für neue Songs bei Contriva nehmen. Insgesamt wirkt Separate Chambers weniger schwermütig als die Vorgängeralben. Auf dem Cover ist ein blaugestrichener Bauzaun vor einem Sommerhimmel zu sehen. Und so sind weite Teile der CD tatsächlich auch entsprechend luftig und sommerlich geraten. Die seltenen Gesangseinlagen von Masha Qrella gehen nicht mehr in Richtung Melancholie, sondern eher ins Poppige mit dezenten Ansätzen von Easy-Listening. Vielleicht ist Separate Chambers deswegen auch das ausgereifteste Album von Contriva: Es ist vielschichtiger und insgesamt weniger berechenbar, teilweise sogar experimentell ­ man könnte allerdings auch sagen: weniger entschlossen als die letzten Alben.

Marcus Peter

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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