Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Tourist und Migrant in wechselnden Rollen

Ein Buch über das Reisen, Wandern und Warten

Was haben Migration und Tourismus gemeinsam? Dieser Frage geht das neue Buch Fliehkraft des Duos Tom Holert und Mark Terkessidis nach. Die Antwort ist einfach – die Bewegung. Doch Bewegung bringt durchaus mehr hervor als nur Migration und Tourismus. Was macht also die Bewegung zwischen Migration und Tourismus so brisant, daß ein ganzes Buch dazu verfaßt wird?

Die Autoren: „Die Räume, in denen sich Migranten bewegen, und die Räume, in denen Touristen reisen, sie sollen und dürfen sich nicht verschränken. Wir vermuten, dies ist so, weil es sich nicht nur um geographische oder um physische Räume, sondern ebenso um soziale Räume handelt. Daß die eigene soziale Rolle als Tourist Anteil an einer Rolle als Migrant haben könnte und umgekehrt ­ das wird von vielen Menschen als extrem beunruhigend empfunden."

Zum Beispiel kann aus einem touristischen Reiseziel ein Ort werden, an dem man arbeiten und leben möchte, zumindest zeitweise. Aber ist das schon Migration? Auch viele saisonale Migranten reisen per Touristenvisum ein, mit dem Ziel sich Arbeit zu suchen. Wer ist also ein Migrant und wer ein Tourist? Definitorische Unterscheidungen sind schwer. In beiden Formen handelt es sich um temporäre Mobilität in Raum und Zeit, mal mit mehr Aufenthalten verbunden, mal mit weniger. Wer als Migrant definiert wird und wer als Tourist, scheint letztlich eine Frage der Perspektive zu sein. Denn versuchte Unterscheidungsmerkmale, wie der Prozeß der Bewegung, die Länge des Aufenthaltes oder die Annahme bezahlter Arbeit, können auf beide Formen der Bewegung zutreffen.

Allerdings stellen als Migranten bezeichnete Menschen einen Großteil der prekär Beschäftigten. Die derzeitige Einwanderungspolitik der reichen Länder mache Migranten aus den Entwicklungsländern häufig zu „Illegalen", so die Buchautoren, und dadurch entstehe ein Zwang, jede Form von Arbeit zu akzeptieren, ohne Arbeitnehmerrechte einfordern zu können. Die Wirtschaft verlange permanent nach billiger und flexibler Arbeitskraft. Eben auf dieser Ebene träfen sich unter anderem Migration und Tourismus ­ in der Tourismusindustrie, wo viele prekär Beschäftigte mit Migrationshintergrund angestellt seien.

So verfolgt das Buch im ersten Teil den Weg der Migration aus der „Dritten Welt" in die „Erste" und deren Gründe, zeigt aber auch auf, wie die Einwanderungspolitik nicht unbedingt die Einreise von Migranten verhindere, aber sie zu „Illegalen" mache, wenn keine Asylgründe vorlägen und sie untertauchen müßten.

Nur wenige jedoch versuchten auf illegalem Wege nach Europa zu kommen. Für diese entstünden Räume des Wartens auf die nächste Mitfahrgelegenheit. Genau in diesen Räumen träfen sich Touristen und Migranten ­ in Tanger (Marokko) oder an den Stränden, wo sich die Touristen sonnen und Migranten mit Booten ankommen. Das Warten setze sich fort in den Aufnahmelagern, in denen oft diejenigen, die nicht gleich abgeschoben werden können, jahrelang in Ungewißheit und zur Bewegungslosigkeit verurteilt verharren müßten, da es ihnen nicht erlaubt werde, sich frei im Land zu bewegen und bis zum Asylentscheid Arbeit zu suchen. Auch diese Warteräume verbinden in aller Regelmäßigkeit die Migration mit dem Tourismus, da Aufnahmelager oft in verlassenen Motels oder Appartementanlagen eingerichtet werden. Diese Unterbringung verleihe dem Warten den Charakter eines negativen Tourismus, in dem körperliche und mentale Freiheiten systematisch entzogen würden. „Warten ist etwas, für das man sich schämen muß, weil es als Zeichen von Trägheit oder niederem Status angesehen und bewertet wird, als Symptom der Zurückweisung und Signal für den Ausschluß", zitieren die Autoren den Soziologen Zygmunt Bauman. Und weiter: „Die Psychologie des Wartens und der Pause ist ein Instrument der Zermürbung. Erstaunlich konsequent werden in der Umsetzung einwanderungspolitischer Entscheidungen Perspektiven und Lebenszeit zerstört", denn der Verlust von Lebenszeit werde dabei staatlicherseits als Gewinn an Kontrolle und Abschreckung verbucht. Diese Räume werden aber nicht nur an abgelegenen Orten ehemaligen Tourismus' angelegt, sondern auch mitten in seinem Herzen ­ an Flughäfen, Bahnhöfen und Schiffshäfen.

Im zweiten Teil des Buches wenden sich die Autoren verstärkt der Analyse des Tourismus zu. Ein wichtiges Augenmerk liegt auf der Veränderung der Städte und ganzer Landschaften durch Migration und Tourismus. So haben viele Migranten ihr im Einreiseland gespartes Geld dafür verwendet, in der Heimat Häuser für ihre Familien zu bauen. Durch die zunehmende Integration gerade der zweiten Generation in das Gastland würden diese Häuser oft nur in den Ferien genutzt. Es seien ganze Stadtviertel entstanden, die überwiegend leer stünden.

Derlei Beispiele gibt es einige in dem Buch, und es ist interessant zu sehen, wie sich eigene Erfahrungen touristischer Wege mit den geschilderten Entwicklungen kreuzen. Die Umgestaltung unserer Umwelt durch die gesellschaftliche Bewegung zwischen Freizeit und Arbeit anhand der Verbindung von Migration und Tourismus aufzuzeigen, ist eine Leistung dieses Buches. Auch wenn die beiden Autoren erst zum letzten Kapitel wirklich damit herausrücken. So ist Fliehkraft für Menschen durchaus lesenswert.

Inett Kleinmichel

Tom Holert und Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 8,95 Euro

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