Ausgabe 10 - 2006 berliner stadtzeitung
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Temporäre Bauten für dauerhafte Probleme

Doch kein Standardwerk: das Buch Architektur auf Zeit

Nicht nur die lange und zunehmend zähe Diskussion über den Palast der Republik hat uns vor Augen geführt, welche Dimensionen temporäre architektonische Eingriffe in bestehenden Gebäudestrukturen oder im Stadtraum allgemein erlangen können. Jede noch so alltägliche Imbißbude, jeder Weihnachtsmarkt, jedes Kassenhäuschen zeigt uns, daß das reibungslose Funktionieren der modernen Großstadt nicht den lange geplanten Bauten alleine überlassen werden kann – eine Stadt ist per se stets im Werden und benötigt gerade im öffentlichen Raum den Container, die Baracke, die Raumerweiterungshalle und den Kiosk, um auf schnelle Veränderungen oder temporäre Bedürfnisse reagieren zu können.

So beliebt die Integration von diesen „weichen Instrumenten" der Stadtplanung bei einer jungen Planergeneration derzeit wird, so unbekannt sind die Auswirkungen derselben für eine ältere Generation und so unbeleuchtet blieb bislang ein geschichtlicher Rückblick auf dieses keineswegs neuzeitliche Phänomen. Das vorliegende Buch Architektur auf Zeit schaut auf über 100 Jahre „mobile Wohnformen, ephemere Bauten, performative Architektur" zurück und konzentriert sich dabei mehrheitlich auf Leipzig.

Das Buch verzichtet leider auf eine Beleuchtung der konstruktiven Aspekte der unterschiedlichen Typologien und auf eine zusammenfassende Analyse der Wechselwirkung von „regulärer" und „behelfsmäßiger" Stadtentwicklung ­ der einzige übergeordnete Text ist ein Gespräch der drei Herausgeber zu Beginn des Buches. So sind die stärksten Momente oft die, wenn die Kapitel einfach aus Fotodokumentationen mit Bildunterschriften bestehen, denn hier wird ein großes bestehendes Vokabular an Zwischenlösungen vorgeführt, dessen Bedeutung in der zeitgenössischen Stadtplanung gerade erst unter dem Begriffsgegensatz „soft tools" und „hard tools" bekannt wird. Stark wird zum Beispiel der Zusammenhang zwischen Funktion, Architektur und Politik dargestellt, wenn erst der Geschichte des Containers vom Warenbehälter zum Wohnort nachgegangen wird und das folgende Kapitel eine Fotoserie mit Innenansichten eines Asylbewerberheims in Leipzig zeigt, das vollständig aus Containern errichtet wurde. Die Stärke des Buchs liegt darin, die Unterschiede zwischen seßhafter und nicht-seßhafter Architektur zu thematisieren und die Frage nach der politischen Benutzung von Temporärem zu stellen. Flüchtlingslager sind lange kein Übergangszustand mehr, sie werden unserer Gesellschaft dauerhaft erhalten bleiben. Trotzdem bleiben ihre Architekturen betont temporär, meist aus Containern errichtet, als würden sie morgen schon abgetragen. Hier soll wohl eher kein Gefühl von Behaglichkeit entstehen.

Interessant sind dann auch die Geschichten der kommerziellen Gebäude, vom Deutschen Adreßbuch-Automaten von 1908 über Kioske, Messestände bis hin zu den Containerlösungen für die „Grenzziehung" der westdeutschen Banken, die 1990 nach Leipzig hineinfluteten. „Schneller sein", der Titel des einleitenden Gesprächs bei Architektur auf Zeit, wird als Hauptmotivation für diese Gebäude sehr schnell deutlich. Andere Bereiche bleiben leider unscharf: Barrikaden und Straßensperrungen sind sicher temporäre Strukturen, die den Stadtraum beeinflussen ­ wären sie in diesem Buch weggelassen, hätte sie aber vermutlich niemand vermißt. Auch das Kapitel über Lagerarchitekturen kann trotz aller Bemühungen keine Parallelen offenbaren: Lager grenzen sich mit Zäunen und Kontrollen gegen den umliegenden Raum ab, während die anderen thematisierten Architekturen vor allem eine Wechselwirkung im Stadtraum erzielen. Auch ist ein Vergleich zwischen Ferien-, Flüchtlings-, Gefangenen- und Konzentrationslager einfach nicht in der Kürze von ein, zwei Kapiteln in diesem Buch ordentlich darzustellen. Das wissen auch die Autoren, und natürlich ist der Zusammenhang zwischen der Struktur von „Stadt und Lager" spannend, wird aber viel zu kurz angerissen und liegt zudem deutlich länger zurück. Diese Kapitel schwimmen den Autoren regelrecht davon, enden in anekdotischen Erzählungen über die KZ-Befreiung von Abtnaundorf und auch ein Verweis auf Alberti kann hier keine übergreifenden Theorien mehr erklären.

Wäre das Buch an vielen Stellen nicht so halbgar und unbestimmt wie gerade hier, würde es nicht so häufig den selbstgesteckten Rahmen von Leipzig verlassen, um urplötzlich überfallartige und viel zu kurze Exkurse in die weltweite Philosophie, Politik und Stadtplanung zu machen, hätte es in der Tat ein Standardwerk werden können.

Denn wenn man sich im Verlauf des Buchs tiefer und tiefer auf die unterschiedlichsten Formen temporärer Bauten einläßt, dann fallen einem immer deutlicher deren Stärken gegenüber der „langfristigen" und oft einfach zu langsamen Stadtplanung auf: All diese temporären Lösungen dienen vor allem einem klar definierten, meistens plötzlich auftretenden Zweck, sie sind funktional, lange bevor sie ästhetisch oder formal werden. Sie sind darüber hinaus funktionsgebundene Experimente in der Stadt: Setzt sich ihre Funktion als sinnvoll im Stadtzusammenhang durch, werden die Behelfskonstruktionen nach und nach durch stabilere Konstruktionen ersetzt. Die temporären Bauten bieten somit einen extrem reaktionsschnellen Wortschatz mit dem Stadtplanung auf Unvorhergesehenes („Krieg, Revolution, Katastrophe, Mangel, Wendezeit") reagieren kann ­ jedenfalls in Städten, in denen es ungenutzte Flächen oder Strukturen gibt.

Die zeitgenössische Stadtplanung, die stets so schnell wie möglich nach der endgültigen Lösung sucht, kann in diesem Bereich noch viel lernen. Betrachtet man die Stadtentwicklungsprozesse weltweit, die sich in vielen Bereichen bereits endgültig der klassischen Planbarkeit entzogen haben, man wünscht sich, der Lernprozeß möge sehr schnell vonstatten gehen.

Florian Heilmeyer

Axel Doßmann, Jan und Kai Wenzel: Architektur auf Zeit. Baracken, Pavillons, Container. b_books, Berlin 2006, 14 Euro

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