Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Es gibt keine Witze mehr

Bevor ich mir Fluch der Karibik 2 im Zoo-Palast ansehe, muß ich noch schnell Wasser abschlagen. Ich suche das entsprechende Örtchen auf und verziehe mich in eine Kabine. Als ich die Tür zugezogen habe, fällt mein Blick auf einen unscheinbaren Aufkleber: „Aus hygienischen Gründen wird diese Toilette videoüberwacht." Ich fühle mich ertappt und sehe mich um, suche die Kamera – nichts. Erst da bemerke ich: Es ist ein Witz.

Ein Witz. Warum fiel mir das nicht sofort auf? Warum erschien mir die Möglichkeit, daß in einer Toilettenkabine eine Videokamera angebracht sein könnte, nicht augenblicklich als absurde Idee? Warum zog ich ernsthaft in Erwägung, die Aufrechterhaltung hygienischer Standards könne einen derart gravierenden Eingriff in die Intimsphäre eines Kinogängers mittels personalintensiver optischer Technik begründen?

Allerorten stößt man auf diese Geräte, die auffällig-unauffällig ihren Dienst tun: mal klobig-unbeweglich an der Außenwand eines Gebäudes, mal diskret und 360°-schwenkbar hinter einem getönten gläsernen Halbrund in der U-Bahn. Die Kameras sind überall. Insofern deutet der Umstand, daß ich den Aufkleber nicht sofort als Witz erkannt habe, offenbar darauf hin, daß meine Erfahrungswelt und die durch den Witz geschaffene hypothetische Umwelt nicht sehr weit auseinanderliegen. Was die Videoüberwachung angeht, scheint es, hat die Wirklichkeit den Witz eingeholt. Es gibt keine Witze mehr.

Dabei ist die Situation wirklich danach, Witze zu machen, so schwer ist sie zu ertragen. Nachdem der Polizei offenbar ein Fahndungserfolg gelungen ist, der, sagen sie, auf den Einsatz der Videotechnik zurückzuführen sei, haben die Schäubles und Becksteins wieder Auftrieb und fordern die Ausweitung dieser Technik. Wenn man ihnen Glauben schenken darf, dann haben wir es mit dem ultimativen Fahndungsmittel zu tun, dessen Wirksamkeit alle anderen übertrifft. Terrorismusbekämpfungsgesetze, Rasterfahndung, Schleierfahndung, genetischer Fingerabdruck? Vergeßt die zahlreichen Befugniserweiterungen für Polizei und Nachrichtendienste der letzen Jahre! Allein die Videoüberwachung kann es richten!

Die Videoüberwachung ist zu einem unverzichtbaren Instrument der „Sicherheitsbehörden" geworden ­ und zwar zur Legitimierung ihrer eigenen Arbeit. Vor allem in dieser Hinsicht wird ihre Bedeutung zunehmen. Die veröffentlichten Aufnahmen der beiden Tatverdächtigen der Anschlagsversuche von Dortmund und Koblenz waren zwar ziemlich unscharf, und der Zeitungsleser und Fernsehgucker fragt sich, was man darauf überhaupt erkennen konnte. Aber darum geht es offensichtlich nicht. Denn ihre eigentliche Funktion besteht darin, einer aufgeschreckten Öffentlichkeit endlich das geben zu können, nach dem sie verlangt: Bilder ­ egal welche. Sie befriedigen ein nimmer zu stillendes Bedürfnis und erfüllen ­ wichtiger ­ darüber hinaus eine ganz spezielle Funktion: zu demonstrieren, daß schon etwas dran sei an der Geschichte, daß man aber die Situation im Griff habe, Genaueres dürfe man leider nicht sagen, aus ermittlungstaktischen Gründen, Sie verstehen.

Noch Fragen? Nein, keine Fragen. Die sind auch nicht erwünscht. Die Bilder sind Teil einer Strategie, sich vor Kritik von außen zu immunisieren. Wer jetzt noch Fragen stellt, setzt sich dem Verdacht aus, die „Sicherheit" des Landes zu gefährden.

Damit werden die Bilder aus den Kameras zu einem neuen Vorposten der alten Strategie, Probleme nicht anzugehen, sondern sie zu verschieben. Terrorismus ist lediglich der aktuelle Anlaß. Zu anderen Zeiten werden andere Anlässe angeführt, ihrer gibt es genügend: der Nahostkonflikt ebenso wie Graffiti.

Man darf annehmen, daß die Wünsche der Sicherheitsbürokraten ohne Abstriche erfüllt werden. Die Videoüberwachung wird ausgeweitet werden. Kein Datenschutzbeauftragter ­ die auch nur Teil der Strategie sind ­ wird die Ausleuchtung aller öffentlichen Winkel, Massenscreenings zur Straftatenaufdeckung, Vorratsdatenspeicherung usw. aufhalten können. In nicht mehr allzu ferner Zukunft werden auch die stillen Örtchen mit den stillen Beobachtern bestückt sein, aus Sicherheits- oder Hygienegründen, Sie verstehen. Kein Witz.

Benno Kirsch

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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