Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Ein ganz eigener, ruhiger Atem

Wie die Zeit im Konzertsaal vergeht

Wenn das 2. Streichquartett von Morton Feldman aufgeführt wird, was selten genug passiert, dann kann es vorkommen, daß die Zuhörer Decken mit in den Konzertsaal bringen oder daß die Veranstalter Sofas und Liegen aufstellen. Denn das Werk des 1987 verstorbenen amerikanischen Komponisten, der für die gängigen „20-minute-pieces" seiner Kollegen nur Spott übrig hatte, dauert fünf Stunden. Heute läuft längst niemand mehr türenschlagend aus Feldman-Aufführungen, heute werden sie von Menschen besucht, die wissen, was sie erwartet und die eine ganz besondere ästhetische Erfahrung machen wollen – eine Erfahrung, die nicht zuletzt ein ganz eigenes Zeiterlebnis bedeutet.

Feldmans Musik entwickelt sich langsam und leise, bereits ein Mezzoforte läßt den Hörer aufschrecken. Sie schreitet voran in immer wieder neuen Wiederholungsschleifen, ohne aber die enervierende Monotonie der Minimal Music zu kennen. Denn Wiederholung bedeutet bei Feldman immer Veränderung. Und da es im 2. Streichquartett Zäsuren und Pausen, deutlich voneinander geschiedene Abschnitte nicht gibt, weiß man irgendwann nicht mehr zu sagen, ob bereits drei oder vielleicht doch erst zwei Stunden vergangen sein mögen, wenn man den Blick auf die Uhr vermeidet. Diese Musik lullt einen nicht ein, ist keine Klangtapete zur Entspannung, aber sie entwickelt ihren ganz eigenen, ruhigen Atem, ihre eigene Zeitlichkeit.

Kein Wunder, daß Morton Feldman ein großer Verehrer von Franz Schubert war. Denn Schubert ist bereits im frühen 19. Jahrhundert, vor allem in seinen Streichquartetten und Klaviersonaten, in Bereiche extremer Zeitgestaltung vorgestoßen, die dann erst wieder im 20. Jahrhundert beschritten wurden. Deshalb hieß es auch lange, der Meister des Liedes habe die großen Formen eben nicht zu bewältigen vermocht. In Wahrheit komponierte Schubert aber gegen die ausgeklügelte Dramaturgie der Sonatenform im Beethovenschen Sinne an, innerhalb derer jeder Ton funktional an seinem Platz zu sein hatte. Während Beethovens Themen perfekt auf die Verarbeitung in der Sonatenhauptsatzform zugeschnitten sind, wirken die Schuberts oft selbstgenügsam und in sich ruhend. In seinen späten Klaviersonaten gibt es immer wieder Passagen, in denen die Zeit stillzustehen scheint, Leerläufe, Kreisbewegungen, unheimlich und quälend. Noch heute erlaubt es sich ein Pianist wie Alfred Brendel, zu Unrecht als Schubert-Interpret gerühmt, Wiederholungen einfach wegzulassen, die Wirkung dieser Sonaten abmildernd und verfälschend. Wenn man hören will, wie weit Schubert gegangen ist, empfiehlt es sich deshalb, zu den in jeder Hinsicht konsequenten Aufnahmen von Swjatoslaw Richter zu greifen.

Über wenige Fragen der Interpretation wird so kontrovers und unversöhnlich gestritten wie über Fragen des Tempos. Waren Sergiu Celibidaches Aufführungen von Bruckner-Symphonien, für die er sich bis zu einer halben Stunde mehr Zeit nahm als seine Kollegen, Offenbarungen oder einfach nur verschleppt? Muß man Barockmusik im Tempo und mit dem Hochdruck der Musica Antiqua Köln spielen? Und nicht einmal die eigenhändigen Metronomangaben bewahren Beethovens Symphonien vor dem Tempo-Streit.

Wenn man einmal von bewußtseinsverändernden Drogen absieht, dann ist sicherlich Musik das herausragende Mittel, neue, nicht-alltägliche Zeiterfahrungen zu machen. Der genormte Drei-Minuten-Song aus dem Radio wird einem solche Erfahrungen allerdings nicht ermöglichen, man muß dann schon zu stärkeren ästhetischen Reizen greifen.

Peter Stirner

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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