Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

In der Nachspielzeit des Lebens

Was uns im Fußball Nerven kostet, hätte man außerhalb mal ganz gern

In den letzten Jahren bekennen sich immer mehr Akademiker und Intellektuelle zu ihrer Leidenschaft für den Fußballsport, für bestimmte Mannschaften oder einzelne Spieler. Als ob ihnen ihre Faszination ein schlechtes Gewissen verursachte, versuchen einige von ihnen, sekundiert von bedeutungshungrigen Fußballfunktionären, den Fußball zu einem wichtigen Kulturgut zu erheben. Sie bringen dann Ergebnisse wie ein 1:2 oder 3:2 mit dem Aktschema klassischer Tragödien und Komödien in Verbindung und verweisen auf die „Dramatik", „Tragik" oder „Katharsis", die bei einem Fußballspiel zu erleben seien. Sie preisen, wie anläßlich der vergangenen WM, die völkerverbindende Kraft des Fußballs oder erklären, wie jüngst wieder Hartmut Böhme in der Zeit, den Fußball zum Kult und die Stadien zu Kathedralen unserer Zeit.

Das alles ist ein großes Mißverständnis. Letztlich geht es beim Fußball nicht um ein ästhetisches Erlebnis oder um Sinnstiftung, sondern ums Gewinnen (oder Verlieren, wenn man etwa, wie es der Autor dieses Textes gelegentlich tut, das Olympiastadion nur in der Hoffnung auf eine Niederlage der Heimmannschaft betritt). Je länger die Frage von Sieg oder Niederlage offen bleibt, desto größer die Spannung, desto intensiver die Gefühle.

Ihren Höhepunkt erreichen Spannung und Emotionen beim Fußball oft erst dann, wenn eigentlich schon alles vorbei ist: in der Nachspielzeit, der Zeitspanne, die vom Schiedsrichter aufgrund von Verzögerungen und Unterbrechungen an die regulären 2 x 45 Minuten angehängt wird. Wer Fußball spielt oder Fußballspiele anschaut, kennt die bange Frage „Wie lange noch?" und die Bilder gegen Ende der regulären Spielzeit: wild gestikulierende, verzweifelt ihre Armbanduhren zeigende Gestalten am Spielfeldrand, Pfeifkonzerte in den Stadien oder wütendes „Pfeif ab, Schiri!"-Geschrei auf den Hartplätzen kleiner Provinznester. Und auch wenn die Entscheidung über die nachzuspielende Zeit heute nicht mehr allein in der Willkür des Schiedsrichters liegt, sondern reglementiert wurde und per Anzeigetafel bekannt gemacht wird ­ das Bangen, ob eine knappe Führung gehalten werden kann, oder die Hoffnung, ein unentschiedenes oder fast schon verlorenes Spiel doch noch zu wenden, potenzieren sich in diesen Minuten.

Das gibt es weder in der Kunst und der Liturgie, noch in den meisten anderen Ball- oder Mannschaftssportarten. Hamlet steht nach dem Duell mit Laertes nicht mehr auf und entreißt Fortinbras die Krone Dänemarks. Beim Handball oder Basketball wird zwar bei Unterbrechungen die Uhr angehalten, doch wenn die Spielzeit abgelaufen ist, ist unwiderruflich alles vorbei. Beim Fußball gibt es diese Gewißheit nach Ablauf der regulären Spielzeit allenfalls als gefühlte. Unvergessen, wie der Kommentator Marcel Reif während des Finales der Champions League 1999 beim Spielstand von 1:0 für Bayern München in der 90. Minute bereits das Spiel und den gesamten Saisonverlauf bilanzierte und nach Teddy Sheringhams Ausgleich in der 91. Minute über die Chancen beider Teams in der bevorstehenden Verlängerung räsonierte, bevor Gunnar Solskjaer mit dem Siegtor für Manchester in der 93. Minute die Fußballweisheit, nach der ein Spiel 90 Minuten dauert, zum Entsetzen der Spieler und Anhänger des FC Bayern eindrucksvoll widerlegte.

Gerade dieser Weisheit verdankt die Nachspielzeit aber ihr Potential zur Steigerung von Spannung und Gefühlsintensität. Mit Ablauf der 90 Minuten ist das Spiel vorbei ­ diese Illusion lebt in den Köpfen von Spielern und Fans aller gegensätzlichen Erfahrung zum Trotz unvermindert weiter. Heutige Spielstatistiken nähren sie noch, indem sie nicht weiter als bis zur 90. Minute zählen und die nachgespielte Zeit wenn überhaupt, dann in verschämter Parenthese anfügen. Was nach der 90. Minute kommt, scheint nicht mehr „richtig" zum Spiel zu gehören, kann aber ­ das Champions-League-Finale '99 zeigte es ­ den vermeintlichen Sieger noch zum Verlierer machen und umgekehrt. Man hofft und bangt, aber eigentlich geht man davon aus, daß die Partie gelaufen ist. Und meistens ändert sich tatsächlich nichts mehr. Umso größer ist die Wirkung, gerade in wichtigen Spielen, wenn dann doch noch etwas passiert ­ wie etwa im vorentscheidenden Spiel um den Aufstieg aus der Regionalliga Nord in die zweite Bundesliga zwischen Preußen Münster und dem SV Babelsberg 03 in der Saison 2000/2001, als Marco Küntzel in der 115. Minute (wegen einer langen Verletzungspause wurden über 20 Minuten nachgespielt) das 3:2 für die Babelsberger erzielte und damit nicht nur den am Live-Ticker aus der Ferne mitfiebernden Autor in hellste Begeisterung versetzte.

In solchen Momenten wird, unabhängig vom Interesse am Spiel und seinem Ergebnis, unbewußt vielleicht auch eine allgemeine Sehnsucht wach und mit ihr die Hoffnung auf ihre Erfüllung: daß es auch im Leben ab und zu eine Nachspielzeit geben möge, die einem, wenn eigentlich schon alles gelaufen ist, Gelegenheit gibt, Ungesagtes doch noch zu sagen, Ungetanes noch zu tun, Fehler wiedergutzumachen. Manchmal gibt es das ja: Ein Zug verspätet sich, ein fast schon beendetes Gespräch bietet die Möglichkeit zur Wiederaufnahme. Fußballfreund oder nicht – dann heißt es wach sein und sich daran erinnern, daß auch verlorengeglaubte Spiele in der Nachspielzeit noch gewonnen werden können.

Bernhard Hartmann

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
Ausgabe 07 - 2006 © scheinschlag 2006