Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Wettlauf mit der Zeit

Eine Apologie des Zuspätkommens

Ich gehöre zu den sogenannten notorischen Zuspätkommern, einer Minderheit hierzulande, die sich in einer Gesellschaft von penetranten Pünktlichkommern ständige Ermahnungen, Schmähungen, Beleidigungen, ja sogar Ausgrenzungen gefallen lassen muß. Unser Verhalten wird mit einem dieser Unworte angeprangert: Unpünktlichkeit. Ein eherner Mehrheitskonsens erklärt uns für nicht gesellschaftsfähig.

Stellt sich natürlich die Frage, warum ich trotz solcher erniedrigender Stigmatisierung ständig zu spät komme und ob ich pünktlicher sein würde, wenn ich mehr Zeit hätte. Wohl beinahe jeder wünscht sich ja jeden Tag drei, vier Stunden mehr Zeit ­ um die Arbeit zu bewältigen, um richtig ausschlafen zu können usw. Ich hätte nichts dagegen, über mehr Zeit zu verfügen, zu spät käme ich trotzdem.

Das hat nicht ­ wie die Pünktlichkommer einem heranhechelnden Säumling gerne unterstellen ­ mit Rücksichtslosigkeit, Ignoranz oder Unhöflichkeit zu tun; daß ich zu spät komme, heißt ja nicht immer nur, jemanden warten zu lassen, sondern eben auch Busse, Bahnen, Züge zu verpassen und damit mir selbst Schaden zuzufügen.

Die wahre Ursache für mein Zuspätkommen läßt sich am besten mit einem „Anheimgegebensein an den Augenblick" oder auch mit Hingabe an die Dinge, die ich tue, beschreiben: Die Beschäftigungen, denen ich gemeinhin ­ nicht nur vor Terminen ­ nachgehe, füllen mich aus, das, was ich tue, ist mir wichtig. Ich lese ein Buch, es packt mich, ich weiß um den Termin, beende die Lektüre kurz vor dem beabsichtigten Aufbruch und doch ­ plötzlich wird die Zeit knapp, etwa weil mich ein wichtiger Anruf erreicht oder so etwas unwichtiges wie der Hausschlüssel gerade mal nicht aufzufinden ist. Darauf folgt ein formidabler Adrenalin-Kick, ein Wettlauf mit der Zeit, Höchstleistungssport mit Sprints, die alle Rekorde brechen. Die eine Sache, das Lesen, ist mir nicht wichtiger als die andere, der Termin. Entscheidend ist, daß sie mir wichtig ist. Und das den Zuspätkommern als Allheilmittel vorgehaltene Zeitmanagement tut letztlich nichts anderes, als das Unwichtige über das wirklich Wichtige zu stellen.

Es gibt natürlich Termine, bei denen ein Zuspätkommen praktisch ausgeschlossen ist. Meine Strategie, um ganz sicher rechtzeitig zu einem solchen Termin zu erscheinen, ist zwar erfolgreich, gleichwohl sind die daraus erwachsenden Konsequenzen aber auch ein ganz offensichtliches Ärgernis. Ich stelle längere Zeit, bevor ich zu starten gedenke, jede mir wichtige Beschäftigung ein und gebe mich eher überflüssigen Tätigkeiten hin. Schnell werde ich bei diesem sozusagen erzwungenen Warten unruhig. Ständig schaue ich zur Uhr. Und es dauert nicht lange, daß sich zur Unruhe auch noch Langeweile und Überdruß hinzugesellen. (Ich langweile mich sonst äußerst selten.) Dabei denke ich wieder und wieder, wie idiotisch das alles ist, daß ich genaugenommen Zeit vergeude, bloß um pünktlich zu sein. Ich gestehe, der Adrenalin-Kick, die Hetzerei ist mir entschieden lieber, gerade wenn die Genugtuung bei einer gerade mal fünfminütigen Verspätung oder gar bei einem pünktlichen Eintreffen am Zielort hinzukommt.

Und es ist auch nicht so, daß ich nicht warten könnte, unter meinen Freunden und Bekannten sind Zuspätkommer zuhauf, auf die ich immer wieder warten muß. Aber dieses Warten ist eines ohne Zeitdruck, kein erzwungenes Warten. Man weiß, der andere könnte sich oder wird sich verspäten. Man kann derweil lesen oder genüßlich in der Nase bohren. Was man mit dem anderen zu tun gedenkt, kann man fast immer auch etwas später. Und beim nächsten Mal bin möglicherweise ich mal wieder derjenige, der zu spät kommt. Das funktioniert tatsächlich, ohne Probleme.

Vor kurzem meldete N24, daß laut einer Umfrage in England – nicht in einem südeuropäischen oder afrikanischen Land! – „immer mehr Menschen im Zuspätkommen kein Problem sehen". 28 Prozent der Befragten gaben zu, nie ganz pünktlich zu sein, in London waren es sogar 41 Prozent. Selbst im Berufsleben sei „ein Trend zum Hinnehmen von Verspätungen zu beobachten". Na also, geht doch. Ein vermeintlich eherner Mehrheitskonsens kann manchmal doch ins Wanken geraten.

Roland Abbiate

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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