Ausgabe 07 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Bis der Markt erschöpft ist

Der Kampf der Nachhilfefirmen um Kunden geht in die nächste Runde

„Der Schulerfolg darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen", forderte 2005 die damalige Bundesbildungsministerin Bulmahn. Tut es aber. Denn einer DIW-Studie zufolge beansprucht jeder dritte Schüler im Westen und jeder vierte im Osten Deutschlands zeitweilig Nachhilfe. Daß das 70 bis 150 Euro im Monat bei sechs- bis zehnmonatiger Vertragsbindung kosten kann, steht auf dem Kontoauszug, nicht in der Studie.

Nachhilfe ist seit Jahren eine Wachstumsbranche. Der Jahresumsatz der kommerziellen, öffentlichen (VHS, Sozialprojekte) und privaten Anbieter liegt bundesweit bei ca. zwei Milliarden Euro. Marktführer sind der zum Berliner Bildungskonzern Cornelsen gehörende „Studienkreis" und die „Schülerhilfe", Teil der US-Firmengruppe Sylvan, die zusammen bundesweit 2000 Filialen betreiben. Ihre 60 Berliner Filialen konkurrieren mit 30 Filialen kleiner Ketten („Lernstudio Barbarossa", „Berliner Lernzirkel", „Lernwerk"), einigen Hauslehrer-Agenturen („Intellego", „Abacus", „Nachhilfe- und Unterrichtdienst") und vielen „Freien". In Berlin geben etwa 3000 Studenten, arbeitslose Lehrer, zunehmend aber auch Ruheständler und Berufstätige regelmäßig Nachhilfe. Die Kundschaft: 15000 bis 35000 Berliner Schüler, Auszubildende, Studenten. Der Jahresumsatz: 10 bis 25 Millionen Euro ­ geschätzt, denn kommerzielle Nachhilfe unterliegt nicht der Schulaufsicht und muß keine Zahlen vorlegen.

Die Mängel des Schulwesens kombiniert mit elterlichen Zukunftssorgen ­ Nachhilfeunterricht ist ein einträgliches Geschäft. Etwa für den Studienkreis, dessen teure Anzeigen in Tages- und Inseratenpresse, Werbeauftritt und TÜV-Zertifizierung die Eltern 2006 eine sechsstellige Summe kosten dürften. Den Preiserhöhungen vom Frühjahr werden vermutlich weitere folgen. Doch Zertifikate bringen keine Erfolgsgarantie, denn der TÜV untersucht die Verwaltung, nicht die Kursqualität. Die bleibt ebenso verborgen wie die Kosten für die Personalaufstockung in der Bochumer Verwaltungszentrale oder die Kosten für eine Münchner Beraterfirma nach dem Eigentümerwechsel 2003.

Weil hier so viel Geld abwandert, bleibt den Lehrkräften bei Nachhilfe-Ketten und Hauslehrer-Agenturen nur eine kleine Entschädigung. Für die eigentliche Arbeit erhalten sie mit 5 bis 10 Euro je 45 Minuten oft nur ein Siebtel des Preises, den die Eltern zahlen müssen. Die Filialen selbst stehen bis zu 80 Prozent der Zeit leer, da die Kurse nur nachmittags stattfinden. Manche sind Franchise-Unternehmen, ein Konzept, das z.B. McDonald's verwendet: Das wirtschaftliche Risiko liegt beim Filialleiter. Transparenz im Kundenkontakt wird kleingeschrieben: Nur wenige Anbieter veröffentlichen Preislisten oder Hinweise auf Kündigungsrechte. Recherchen der Stiftung Warentest führten 2006 zu nervösen Reaktionen („Argumentationshilfen" für die Filialen), hatten sie doch Schwächen der Branchenführer und die Vorteile nicht-kommer-zieller privater Nachhilfe gezeigt. Wer sich informieren will, ist auf die Berichte von Eltern, Schülern und Lehrkräften in einschlägigen Internet-Foren wie ciao.de angewiesen.

Die Eltern zahlen auch dafür, daß Studienkreis und Schülerhilfe ihre Marktmacht ausbauen wollen, indem sie den Verband der Nachhilfe- und Nachmittagsschulen e.V. (VNN) betreiben, eine Lobbyorganisation, mit der sie beabsichtigen, kleinere Konkurrenten zu verdrängen. Der VNN will durch „institutionalisierte Nachhilfe" langfristig die Marktmacht von Studienkreis und Schülerhilfe ausbauen ­ womit der Zugriff auf den Nachmittagsunterricht der Schulen gemeint ist. In diesem Zusammenhang sollen der Nachhilfebegriff erweitert und andere Kunden als Schüler akquiriert werden. Also greift die Branche nach Studenten als Kunden und nach der Migranten-Sprachförderung, wo man glaubt, Schwarzgeld abgreifen zu können, und fürchtet die Ganztagsschule, Kaufkraftschwächung und Schülerschwund. VNN-Vorsitzende Cornelia Sussieck: „Nachhilfe ist ein notwendiger Faktor für das Funktionieren unseres Schulsystems." „Nachhilfeschulen" seien ein „notwendiger Teil des deutschen Bildungssystems".

Der Bildungsbericht der Bundesregierung schweigt dazu, ebenso die Kultusministerkonferenz und der Berliner Senat. Bildung ist Ländersache. Zwar unterscheidet das Berliner Schulge-setz zwischen „Ersatzschulen", „Ergänzungsschulen" (Privatschulen) und „Freien Einrichtungen und Privatunterricht" (Nachhilfe). Aber Staat und Branche haben sich arrangiert. 2007 kommt die größte Steuererhöhung der Nachkriegszeit ­ Nachhilfefirmen sind umsatzsteuerbefreit. Das bedeutet einen Steuerausfall von 150 bis 180 Millionen Euro jährlich. Grundlage ist die kaum bekannte Umsatzsteuerrichtlinie 112, die Nachhilfe faktisch als Teil der Schulbildung einstuft. Über das Steuerrecht, nicht das Schulrecht. Was tut die Branche für die großzügige Förderung? Sie sorgt angeblich dafür, „daß über 50000 Kinder und Jugendliche den Sprung in die nächste Klassenstufe schaffen. Wir sparen den Steuerzahlern somit über 240 Millionen Euro." Das erklärt die Toleranz der Bildungsbürokratie. Bildung aus den Schulen zu verlagern, ist eben einfacher als das Schulwesen zu reformieren, zumal die Schülerzahl ohnehin sinkt.

Wenn schulische Lernziele von vielen Schülern nur mit Nachhilfe erreicht werden können, wird es Zeit für eine Reform des Bildungswesens, nicht für eine Privatisierung der Bildung. Nachhilfe als Teil der Schulbildung anzuerkennen, heißt Reformen zu verzögern. Leider zahlen viele Eltern lieber, als für Verbesserungen in der Schule zu kämpfen („Bringt doch alles nichts"). Doch für viele schmälert Nachhilfe die Bildungschancen, die in Berlin bereits stark herkunfts- und einkommensabhängig sind.

2006/2007 wird der Kampf um die Hauptstadt härter werden: Werbekampagnen, Preisaktionen, Neugründungen. Die Schulverwaltung betreibt noch knapp 1000 Schulen mit 420000 Schü-lern, 300000 in den „nachhilfefähigen" Grund-, Gesamt- und Realschulen sowie Gymnasien. Nach einer Studie der Prognos AG und der Robert-Bosch-Stiftung sinkt diese Zahl bis 2015 um ein Viertel. Neun Jahre vergehen schnell, bis dahin soll der Markt abgeschöpft sein. Eltern und Schüler können jetzt profitieren, wenn sie Angebote vergleichen und rechtzeitig kritisch fragen. Oder Nachhilfe gleich privat organisieren, wie von der Stiftung Warentest empfohlen. In einigen Bezirken gibt es Sozialprojekte, die Nachhilfe und Hausaufgabenbetreuung auf Spendenbasis anbieten. Dorthin sollte man sich wenden. Schließlich ist Nachhilfe Vertrauenssache.

Mario Kraus

scheinschlag-Aufsteller

 
 
 
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