Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Walfang auf Tibetisch

Das China-Festival im Haus der Kulturen der Welt zeigte neue chinesische Filmhelden

Unter dem Titel China – zwischen Vergangenheit und Zukunft wurde im Februar nebst Symposium, Ausstellung aktueller Foto- und Videokunst, literarischen Lesungen und Peking-Opern auch ein eigenes Filmfestival präsentiert. Eines der Hauptanliegen war dabei die Frage nach Möglichkeiten des kulturellen Gedächtnisses innerhalb der wechselhaften chinesischen Gegenwart. Reale Gedächtnisorte und der explodierende Bauboom der letzten Jahre scheinen in China unvereinbare Situationen hervorzubringen, in denen die Frage nach der Leidensfähigkeit des Körpers meist zum Dreh- und Angelpunkt der aktuellen Produktionen wird. In den Kunst- und Filmarbeiten zeichnet sich dabei insbesondere ein Motiv ab: eine Hinterfragung des Heldentums, das nicht zuletzt als zentrales Moment der Kulturrevolution mittlerweile hinfällig geworden ist. Der Arbeiterheld verschwindet nicht nur in der anonymen Masse des wirtschaftlichen Umbruchs, er wurde in den ausgestellten Werken entweder – nach altem Modell – schlicht entmythisiert betrachtet oder es wurden neue Ansätze gesucht. Wenn dabei die Vielfalt chinesischer Kulturtraditionen auf neue Strategien der Verwestlichung trifft, wirkt sie in der Suche nach neuen Mythen und neuen Wertschätzungen vergessener Bilder und Zustände gebrochen: ununterscheidbare Menschenansammlungen treffen auf vergoldete Gruppenmonumente, treffen auf den schwitzenden selbst- oder fremdmalträtierten einzelnen Körper, treffen auf flüchtig gewordene Begegnungen anonymer Menschen in Hochhaussiedlungen.

Unter den Beiträgen des Filmfestivals gab es viele überraschende Fundstücke zu bestaunen, ein Film jedoch, der sowohl als externer Bildspeicher als auch als Zukunftsblick hinsichtlich neuer Kooperationen funktioniert, fiel besonders auf: die chinesisch-tibetische Filmproduktion Kekexili ­ Mountain Patrol von Lu Chuan, die in der gleichnamigen, 5000 Meter hochgelegenen Bergregion Tibets spielt. Ein Reporter aus Peking, Ga Yu, begleitet darin eine Schutztruppe zum Erhalt der tibetischen Berg-Antilope bei ihrer gefährlichen Arbeit gegen Wilderer. Die gesamte Truppe begibt sich auf eine Verfolgungsjagd durch die karge unerbittliche Berglandschaft.

Lu Chuan gilt als Chinas große Kinohoffnung. Nach seinem Erstling Missing Gun von 2002 hat er mit Kekexili einen Film gedreht, der sowohl in China als auch im Ausland positiv aufgenommen wurde. Es ist ein Film, der vom puren Überlebenskampf handelt, wo der Mensch und jedes ihm zur Verfügung stehende Mittel zu verschwinden drohen, wo Kälte, Eis und dünne Luft das Sagen haben, und der Kampf nicht nur über Atem, Land, Felle obsiegt, sondern schließlich ganz „Lebensinhalt" wird.

Atemberaubend wird jede Suche, jede Jagd, jede Verfolgung in Szene gesetzt. Welch Drama ein liegengebliebenes Auto birgt, kann sich wohl erst in einer derartigen Region offenbaren. Nichts ist zu sehen, wenn die Hoffnung stirbt, welche eigentlich zuletzt sterben sollte, hier aber „immerfort" oder „dennoch" ­ vielleicht auch „trotzdem" ­ stirbt. Der Anführer der Wildschützer, Ri Tai, und seine Truppe werden sich nach und nach selbst verlieren. Kein Wasser, kein Benzin, kein Kontakt zur Außenwelt.

Das Kino als Kammerspiel gelangt hier an seine extremsten und faszinierendsten Grenzen. Niemand kommt neu hinzu, keine Interaktion mit der Außenwelt. Die Jäger und die Gejagten, die permanent ihre Rollen vertauschen, werden innerhalb einer unendlichen Landschaft, inmitten unzähliger unbefellter Tierkadaver, sozusagen eingeschlossen. Die leeren Horizonte konnten somit definitiv in den Wahnsinn treiben: Ri Tai, ein Ex-Militär, erinnert an Gregory Pecks Verkörperung des Kapitän Ahab in John Hustons Film Moby Dick (1956), der seinem Ziel folgt bis in den selbst verursachten Untergang. Der Journalist hingegen verkörpert eher die Figur des Melvilleschen Erzählers und Randbeobachters: Ismael ­ der einzige Überlebende des ausweglosen Unternehmens. Die tibetische Bergregion als weißer Wal? Herman Melville selbst war in seinen Texten durchaus asiatisch beeinflußt: Handeln im Nicht-Handeln, ob bei Bartleby oder beim instinktorientierten Kapitän Ahab. Auch Ri Tai ist eine Figur, die eine Spur verfolgt, bis zum Niedergang seiner gesamten Truppe.

Für die chinesische Filmwirtschaft ist dies unglaublicher Stoff: ein anderes Heldentum, eines, das immer zu leicht zu weit gehen kann, auch wenn es schützen will. Eines, das sich seine neue Situation und seinen neuen Status erst erarbeiten muß. In kleinen Schritten womöglich. Der tibetische Einfluß in China also? Hoffen, wo man hoffen kann.

Tina Hedwig Kaiser

 
 
 
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