Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Vom Anfang eines Endes ­ das Theater im Knast zu Gast

Henriette Huppmann inszeniert über und mit Insassinnen von Frauengefängnissen

Von außen ist das Gebäude unscheinbar, ein preußisch-schmuckloser Backsteinbau, der irgendeiner Behörde gehören könnte. Kein Schild weist auf seine Bestimmung hin. Man muß schon die genaue Adresse kennen, wenn man hier etwas verloren hat. Wie etwa ein Dutzend Menschen, die an einem späten Sommernachmittag nicht ins Freibad gehen, sondern in den Frauenknast Lichtenberg, um sich ein Theaterstück anzusehen. Das schon länger bekannte Tegeler Knasttheater probt seit gut zwei Jahren auch hier. Diese Aufführung ist die vierte Produktion des Theatergruppenkollektivs VolkArt zusammen mit Insassinnen aus Neukölln und Lichtenberg. Der Untergang der MS Lichtenberg oder Sehnsucht nach dem Horizont ist eine Collage aus leicht veränderten Texten unter anderem von Ulrike Meinhof, Aischylos und Heiner Müller, Regie führte Henriette Huppmann. Die Uraufführung fand „draußen" statt, im HAU 3.

Bevor der Besucher den Theatersaal, sprich: den Gemeinschaftsraum, betreten darf, muß er zunächst seine Taschen in einem Schließfach am Eingang deponieren. Der Personalausweis wird eingezogen, Wasserflaschen dürfen nur mitgenommen werden, wenn sie noch versiegelt sind. Eine Tür weiter ist der eigentliche Eingang, der in wenig anheimelndem, dunklem Steingrau gestrichen ist. Davor hat sich eine kleine Gruppe gebildet, die auf Einlaß wartet.

Nach einigen Minuten, in denen die Eingangssituation ihre volle Wirkung beim Besucher entfalten konnte, geht es ins Gebäude hinein, zunächst in einen schmucklosen Raum mit ein paar Stühlen und einem Tisch. Während wir also auf diese Art „Flughafen-Untersuchung" warten, können wir die Aussicht aus dem Fenster in den Knasthof bewundern. An den offenen, vergitterten Fenstern gegenüber sitzen die Frauen und schauen in den Himmel oder unterhalten sich. So sieht also Knastleben aus.

Eine andere Dame kommt und führt uns hinein. Es geht einen engen, langen Gang entlang, dann eine auf jeder Etage abgeschlossene, vergitterte, schmale Wendeltreppe hinauf. So stellt man sich einen Knastbau vor oder auch nicht, denn alles sieht frisch renoviert aus. Die Dame hat sich im Stockwerk geirrt, und plötzlich sind wir im Zellentrakt. An jeder Tür steht der Name der Insassin, Einzelzimmerunterbringung sozusagen. Die Türen stehen offen: Obwohl identisch eingerichtet, hat jede Zelle logischerweise eine persönliche Note. Das weiß man, aber es ist schon etwas anderes, das wirklich zu sehen. Die Atmosphäre ist nicht viel anders als in einem großen Wohnheim, es gibt eine Küche in der Mitte. Am anderen Ende des Flurs stehen gut bestückte Wäschetrocknergestelle. Daß dies doch ein richtiger Knast ist, zeigt die Architektur: Die „Zimmer" befinden sich auf einer Galerie, rechts Zellen, links Freiraum ­ Knastarchitektur eben.

Vor dem eigentlichen Veranstaltungsraum stehen schon andere Besucher. Nach und nach kommen auch noch interessierte Insassinnen hinzu ­ der Großteil der Darstellerinnen sitzt hier ein, nur manchen ist ihr derzeitiger Wohnort anzusehen. Endlich geht es hinein in den Gemeinschaftsraum. Auf einer Seite stehen umgedrehte blaue Plastikfässer und ein Kartenständer mit einer Leinwand, dazwischen macht eine ältere Frau mit sehr kurzen Haaren mechanisch immer wieder dieselben Bewegungen. Der Raum mit den riesigen neogotischen Fenstern füllt sich. Durch eine schmale Tür tauchen die Spielerinnen auf, alle in identischer Kleidung, und aus dem Off sagt eine Stimme: „Der Anfang vom Ende ist immer diskret." Eine Frau beginnt zu sprechen, chorisch fallen die anderen mit ein. Auf der Leinwand starrt ein Auge durch das Guckloch der Zellentür. In Monologen sprechen die Frauen die bearbeiteten Texte von Müller, Aischylos und Meinhof. Sie reden, schreien von Einsamkeit und Verzweiflung, Monotonie, es wird getrommelt, getobt und gelitten. Dazwischen schreit eine Männerstimme immer wieder „Freistunde", ohrenbetäubend erklingt der Radetzkymarsch, und die Frauen vollführen eine Art Handschellengymnastik. Herrlich albern sieht das aus. Das Publikum amüsiert das sehr. Nach einer Dreiviertelstunde ist das Stück vorbei, es wird heftig geklatscht. Der Vollzugsleiter lobt noch einmal und verteilt Blumen. Zufrieden sitzt die Truppe danach noch zusammen und feiert ­ im Rahmen der Möglichkeiten. Die Gäste suchen sich den Weg nach draußen. Im Herbst gibt es das nächste Stück, dann sollen auch Männer beteiligt werden.

Ingrid Beerbaum

 
 
 
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