Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Sechsen überall

Der Street-Artist „4rtist.com" verschönert Mitte

Nach mehr als 600000 gepinselten Sechsen hat 4rtist.com eine gewisse Übung. Inzwischen steigt der Street Artist gar nicht mehr vom Fahrrad ab, wenn er eine geeignete Stelle sieht. Er taucht den Pinsel in den Eimer mit Kalkfarbe, der am Lenker hängt, und malt im Vorbeifahren eine schlanke, nach rechts kippende Sechs auf ein altes Brett, das am Geländer der U-Bahnstation Rosenthaler Platz lehnt.

Diese Sechs ist strafrechtlich nicht relevant, die Farbe abwaschbar, der Untergrund herrenloser Sperrmüll. „Das ist mir wichtig, ich beschädige nie was dauerhaft", sagt 4rtist.com und fügt hinzu, daß er dennoch über die Jahre etwa 500mal von der Polizei kontrolliert worden sei. Das nennt er „unschöne Sachen" und meint damit auch, daß die Staatsgewalt bereits diverse Eimer und Fahrräder beschlagnahmt hat. Zu einer Strafverfolgung sei es aber bisher nie gekommen, alle Anzeigen gegen ihn habe der Staatsanwalt eingestellt.

Vor elf Jahren begann der 46jährige Street-Artist, in Mitte den Pinsel zu schwingen. Damit gehört er zu den Pionieren der Berliner Szene, die weltweit einen eher mythischen Ruf hat. Spätestens seit 2003, als anläßlich der Veranstaltung The Live Issue 1 Künstler von São Paulo bis London nach Berlin eingeladen wurden, gilt Berlin als Street-Art-Mekka schlechthin: regelmäßig reisen internationale Szenegrößen an, um in der Stadt ihre Markierungen zu hinterlassen.

Begonnen habe dies 1994, erzählt 4rtist.com: Damals habe „ein Belgier mit psychotischen Schüben" auf ausrangierten Kühlschränken, Sperrmüll und Litfaßsäulen Sätze wie „Warum muß der Sohn sterben" und „Wann stellt das erste Kreuzberger Schwein seine Essenreste heraus" gekritzelt. Als er dann 1995 aus der Pfalz in das Nachwende-Berlin kam, installierte er eine rote Couch auf der East-Side-Gallery und begann täglich bis zu 400mal auf illegalen Plakaten und Werbestickern Sechsen zu pinseln.

Die Sechs ist nicht der Hauptbestandteil seiner Kunst: „Die läßt sich eben gut malen und außerdem erreiche ich damit auch Passanten die sich nicht für Kunst interessieren, aber etwas Sexuelles dahinter vermuten." Die Zahl, die er sich auch auf den Mittelfinger tätowiert ließ, soll vielmehr die Aufmerksamkeit auf seine Straßen-Installationen ziehen, mit denen 4rtist.com „auf die Möglichkeit höherwertiger Lösungen hinweisen" möchte, die durch intensives Nachdenken zu erzielen wären.

Vor einiger Zeit waren das Fahrräder: alte, meist rostige Drahtesel, die der Künstler mit Weihnachtsgirlanden und Telefonhörern, die über den Lenker baumelten, ausstaffiert hatte. Auf jede freie Stelle waren dann noch Sechsen gepinselt. „Durch Autos gibt es jedes Jahr zig Verkehrstote, die Umwelt leidet unter Abgasen: Man sollte nur mit dem Rad fahren, um sich fortzubewegen", erklärt er die Kreationen. Zurzeit gibt es allerdings keine Installation mehr in Mitte: „Die sind alle verschwunden, ich vermute mal, das war die Straßenreinigung".

4rtist.com setzt sich aber nicht nur für Menschen und die Umwelt ein, sondern auch für eine bessere Nutzung des Computers. Weil das Finden „höherwertiger" Lösungen im Vordergrund seiner Kunst steht, hat er auch zur PC-Technik Vorschläge. Durch Zufall hat er entdeckt, daß er bei Webseiten, auf denen er sich verklickt hat, wieder auf die Hauptseite zurückgelangt, wenn er ein Rautezeichen (#) direkt hinter dem Domain-Namen eintippt. Damit dieses Wissen sich verbreitet, pinselt 4rtist.com diese Computerlösungen als Schaubild auf alte Matratzen oder Pappstücke, die er an Bauzäune hängt. Daß diese etwas kryptischen Schaubilder gegebenenfalls nicht verstanden werden könnten, läßt er nicht gelten: Wer wolle, könne sie nachvollziehen: „Der Wille muß da sein."

Obwohl er sich über mangelnde Bekanntheit nicht beklagen kann – alle großen Berliner Tageszeitungen berichteten bereits über ihn, bei den Hauptstädtern gilt er als der „Sechsenmann", ausländische Sender drehten Beiträge –, wird er auch in Zukunft nicht von den Sechsen lassen, versichert er. Und abgesehen von der Polizei seien auch die Reaktionen der Passanten positiv. Aber selbst wenn das nicht so wäre, würde er weiter pinseln.?

André Glasmacher

 
 
 
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