Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

musik für die massen

Latino-Elektro

Am Anfang hielten es alle noch für einen Scherz. Dabei war es Uwe Schmidt aka Atomheart durchaus ernst, wie sich zeigen sollte. Er sucht Mitte der 90er nach neuen Formen für elektronische Musik und kehrt Deutschland den Rükken, um nach Santiago de Chile auszuwandern. Dort erfindet er sich als Sen~or Coconut neu. Und er bringt ein Album mit genialen Kraftwerk-Cover-Versionen im Latino-Style heraus. Haha, ganz lustig. Als er aber dann in Deutschland auf Tournee geht, zeigt sich, wie viel Substanz das Projekt hat, denn er reist mit einer ganzen Combo lateinamerikanischer Musiker an und legt eine legendäre Show im ehemaligen Maria im Postbahnhof hin. Inzwischen hat Herr Kokosnuß einige weitere Alben herausgebracht, auf seinem neuesten Yellow Fever! (Essay Recordings) covert er den ein oder andern Song des japanischen Yellow Magic Orchestra, das Ende der 70er Jahre so eine Art lustbetonteres, japanisches Pendant zu Kraftwerk war. Unterstützt wird er dabei von Minimal House DJ Akufen, den Kölnern Mouse on Mars, dem japanischen Elektro Easy Listening Komponist Towa Tei; vor allem aber von der genialen Stimme von Argenis Brito, ohne den das ganze Projekt wohl nur die Hälfte wert wäre. Und was kommt da nun bei raus? Ein asiatisch-europäisch-lateinamerikanischer interkultureller Austausch zwischen Plüsch und Avantgarde. Auf Dauer lutscht sich dieser plakative Latino-Elektro-Clash zwar etwas aus, ist aber für verpeilte Sommerabende genau das richtige.

Fast als Gegenkonzept könnte man The Shine Of Dried Electric Leaves (Nuzzcom) bezeichnen: Cibelle ist Brasilianerin und hat ihre Heimat São Paulo verlassen, um zunächst in Paris und dann in London nach neuen musikalischen Einflüssen zu suchen. Während Sen~or Coconut fast ausschließlich Momente der vermeintlichen lateinamerikanischen Lebensfreude collagiert, schließt Cibelle auch die Tristeza nicht aus, gestaltet so einen weiten musikalischen Bogen und kreiert atmosphärische Vielschichtigkeit. Trotz ihres Backgrounds als Bossa-Nova-Sängerin arbeitet sie lateinamerikanische Rhythmen wohldosiert in ihre Soundstrukturen ein. Wie eine Bricolage aus ihrem wunderbaren Gesang und mit Stimmsamples, jazzigen Gitarrenakkorden und zufälligen Geräuschen, elektronischen Clicks und Beats setzt sie ihre Songs zusammen. Das Ergebnis ist raffiniert und verführerisch zugleich und ziemlich weit entfernt vom abgefeierten Trend lateinamerikanischer Clubsounds. So oder so ist The Shrine Of ... ein Album, das länger als einen Sommer lang in Erinnerung bleibt.

Marcus Peter

 
 
 
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