Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Öffnen, nicht knacken

Die Sportsfreunde der Sperrtechnik testen die Grenzen der Schließtechnik

Sie knacken keine Schlösser und brechen auch nirgendwo ein. Die Sportsfreunde der Sperrtechnik öffnen Schlösser und sehen es als sportliche Herausforderung, die Grenzen der Sicherheit zu finden. Denn jedes Schloß besitzt Fertigungstoleranzen, die sich ein „Lockpicker" (so nennen sich die Sportsfreunde) zunutze machen kann, um ohne Schlüssel die Stifte des Schließmechanismus' in die richtige Position zu manövrieren und auch ein sehr komplexes Schloß zu öffnen. Sie begreifen ihre Tätigkeit als Sport und sehen sich selbst in der Tradition des Chaos Computer Clubs. Einzelne Mitglieder der Sportsfreunde kommen aus dem CCC und haben jetzt ein neues Betätigungsfeld gefunden.

Der Verein wurde 1997 in Hamburg gegründet. Von dort aus breitete er sich ziemlich schnell aus. In Berlin gibt es sogar zwei Ableger, einen für Ost und einen für West. Doch die Mitglieder beider Vereine treffen sich zu ihren Lockpicking-Sitzungen gemeinsam, so daß es keine wirkliche Trennung zwischen den beiden Untergruppen gibt. Torsten Quast, der Ansprechpartner für Berlin, betont, daß es ihnen bei diesem Sport nicht um unerlaubte Bereicherung gehe, sondern um den Anreiz, jedes noch so komplizierte Schloß wenigstens einmal geöffnet zu haben. Denn sie wollen und können ein abgeschlossenes Schloß nicht hinnehmen. Irgendwie muß es sich doch öffnen lassen, denken sie sich, und versuchen es immer wieder. Erst einmal kamen sie so an die Grenzen ihres Sports.

Manchmal geht es aber einfach nur um übermütigen Unfug. Wenn die Lockpicker z.B. Schlösser von Fahrrädern tauschen oder Fahrräder in einer unbeobachteten Minute umsetzen. Auf diese derben Späße reagierten die Betroffenen durchweg positiv, da sie ihr Fahrrad nach kurzer Zeit wiederfanden und so die Grenzen der Sicherheit begriffen. Und manchmal sind auch Hilfestellungen gefragt, z.B. wenn Leute das zerstörerische Werk des Schlüsseldienstes umgehen und ihr Geld nicht für ein neues Schloß ausgeben wollen. Dann lassen sich die Freunde der Sperrtechnik erst den Personalausweis zeigen, um nicht zum Handlanger von Einbrechern zu werden, denn mit dem Gesetz wollen sie auf keinen Fall in Konflikt kommen. Dann wäre ihre ganze Community diskreditiert.

Daß der Ehrgeiz, mit dem sich die Sportsfreunde dem Schloßöffnen widmen, auch ganz oben Anerkennung findet, zeigt die Begebenheit, als Torsten Quast dem Sicherheitsdienst des Kanzlers Schröder helfen mußte. Als dieser Babelsberg besuchte, wurde Quast aufgefordert, herumstehende, als potentielle Rohrbombenträger angesehene Fahrräder umzuschließen, denn natürlich waren nicht alle Radbesitzer der Aufforderung nachgekommen, ihre Gefährte woanders abzustellen. Also entsperrte Quast die betreffenden Fahrräder und schloß sie an einer abgelegeneren Stelle wieder an. Einen Dank für diese staatstragende Leistung gab es nicht.

Einer der Sperrtechniker, Clemens Oeltjen, bezeichnet sein Hobby als Extremsport, so wie Schach und Rückwärtsrennen, denn das Lockpicking erfordere nicht zuerst Muskelkraft, sondern vor allem Ausdauer, Geduld und Gehirnschmalz, um zu begreifen, wie ein Schloß funktioniere, und Wege zu finden, die Sperren zu umgehen. Nur durch langes und immerwährendes Training könne man in diesem Sport Meister werden. Aber das ist doch bei allen Sportarten so, oder? Vor allem sollte man nicht annehmen, daß, wenn man einmal alle Schlösser durchprobiert hat, dann Feierabend ist. Jede Firma bringt ca. alle fünf Jahre ein neues Schloß auf den Markt, das wieder ausprobiert werden will. Manche Firmen haben nichts dagegen, wenn der Verein die Mängel ihrer Produkte aufdeckt, während andere schon bei der bloßen Nennung des Vereinsnamens rot vor Wut werden. Aber das nützt ihnen gar nichts, und das Vergnügen der Grenzüberschreitung wird dadurch kein bißchen geschmälert!

Inett Kleinmichel

www.ssdev.org

 
 
 
Ausgabe 06 - 2006 © scheinschlag 2006